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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

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erkundigte, die beste Auskunft geben. Sie
wußte daß Charlotte sich schon früher nach
einer Stelle für ihn umgethan hatte: denn
wäre die Gesellschaft nicht gekommen, so hätte
sich der junge Mann gleich nach Vollendung
der Capelle entfernt, weil alle Bauten den
Winter über stillstehn sollten und mußten;
und es war daher sehr erwünscht, wenn der
geschickte Künstler durch einen neuen Gönner
wieder genutzt und befördert wurde.

Das persönliche Verhältniß Ottiliens zum
Architecten war ganz rein und unbefangen.
Seine angenehme und thätige Gegenwart hatte
sie, wie die Nähe eines ältern Bruders, unter¬
halten und erfreut. Ihre Empfindungen für
ihn blieben auf der ruhigen leidenschaftslosen
Oberfläche der Blutsverwandtschaft: denn in
ihrem Herzen war kein Raum mehr; es war
von der Liebe zu Eduard ganz gedrängt aus¬
gefüllt, und nur die Gottheit, die alles durch¬

II. 6

erkundigte, die beſte Auskunft geben. Sie
wußte daß Charlotte ſich ſchon fruͤher nach
einer Stelle fuͤr ihn umgethan hatte: denn
waͤre die Geſellſchaft nicht gekommen, ſo haͤtte
ſich der junge Mann gleich nach Vollendung
der Capelle entfernt, weil alle Bauten den
Winter uͤber ſtillſtehn ſollten und mußten;
und es war daher ſehr erwuͤnſcht, wenn der
geſchickte Kuͤnſtler durch einen neuen Goͤnner
wieder genutzt und befoͤrdert wurde.

Das perſoͤnliche Verhaͤltniß Ottiliens zum
Architecten war ganz rein und unbefangen.
Seine angenehme und thaͤtige Gegenwart hatte
ſie, wie die Naͤhe eines aͤltern Bruders, unter¬
halten und erfreut. Ihre Empfindungen fuͤr
ihn blieben auf der ruhigen leidenſchaftsloſen
Oberflaͤche der Blutsverwandtſchaft: denn in
ihrem Herzen war kein Raum mehr; es war
von der Liebe zu Eduard ganz gedraͤngt aus¬
gefuͤllt, und nur die Gottheit, die alles durch¬

II. 6
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[81/0084] erkundigte, die beſte Auskunft geben. Sie wußte daß Charlotte ſich ſchon fruͤher nach einer Stelle fuͤr ihn umgethan hatte: denn waͤre die Geſellſchaft nicht gekommen, ſo haͤtte ſich der junge Mann gleich nach Vollendung der Capelle entfernt, weil alle Bauten den Winter uͤber ſtillſtehn ſollten und mußten; und es war daher ſehr erwuͤnſcht, wenn der geſchickte Kuͤnſtler durch einen neuen Goͤnner wieder genutzt und befoͤrdert wurde. Das perſoͤnliche Verhaͤltniß Ottiliens zum Architecten war ganz rein und unbefangen. Seine angenehme und thaͤtige Gegenwart hatte ſie, wie die Naͤhe eines aͤltern Bruders, unter¬ halten und erfreut. Ihre Empfindungen fuͤr ihn blieben auf der ruhigen leidenſchaftsloſen Oberflaͤche der Blutsverwandtſchaft: denn in ihrem Herzen war kein Raum mehr; es war von der Liebe zu Eduard ganz gedraͤngt aus¬ gefuͤllt, und nur die Gottheit, die alles durch¬ II. 6

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/84>, abgerufen am 25.11.2024.