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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

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"Warum soll man es aber so streng neh¬
men? Ist denn alles was wir thun für die
Ewigkeit gethan? Ziehen wir uns nicht Mor¬
gens an, um uns Abends wieder auszuziehen?
Verreisen wir nicht, um wiederzukehren? Und
warum sollten wir nicht wünschen, neben den
Unsrigen zu ruhen, und wenn es auch nur
für ein Jahrhundert wäre."

"Wenn man die vielen versunkenen, die
durch Kirchgänger abgetretenen Grabsteine,
die über ihren Grabmälern selbst zusammen¬
gestürzten Kirchen erblickt; so kann einem das
Leben nach dem Tode doch immer wie ein
zweytes Leben vorkommen, in das man nun
im Bilde, in der Ueberschrift eintritt und
länger darin verweilt als in dem eigentlichen
lebendigen Leben. Aber auch dieses Bild,
dieses zweyte Daseyn verlischt früher oder
später. Wie über die Menschen so auch über
die Denkmäler läßt sich die Zeit ihr Recht
nicht nehmen."


„Warum ſoll man es aber ſo ſtreng neh¬
men? Iſt denn alles was wir thun fuͤr die
Ewigkeit gethan? Ziehen wir uns nicht Mor¬
gens an, um uns Abends wieder auszuziehen?
Verreiſen wir nicht, um wiederzukehren? Und
warum ſollten wir nicht wuͤnſchen, neben den
Unſrigen zu ruhen, und wenn es auch nur
fuͤr ein Jahrhundert waͤre.“

„Wenn man die vielen verſunkenen, die
durch Kirchgaͤnger abgetretenen Grabſteine,
die uͤber ihren Grabmaͤlern ſelbſt zuſammen¬
geſtuͤrzten Kirchen erblickt; ſo kann einem das
Leben nach dem Tode doch immer wie ein
zweytes Leben vorkommen, in das man nun
im Bilde, in der Ueberſchrift eintritt und
laͤnger darin verweilt als in dem eigentlichen
lebendigen Leben. Aber auch dieſes Bild,
dieſes zweyte Daſeyn verliſcht fruͤher oder
ſpaͤter. Wie uͤber die Menſchen ſo auch uͤber
die Denkmaͤler laͤßt ſich die Zeit ihr Recht
nicht nehmen.“


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[30/0033] „Warum ſoll man es aber ſo ſtreng neh¬ men? Iſt denn alles was wir thun fuͤr die Ewigkeit gethan? Ziehen wir uns nicht Mor¬ gens an, um uns Abends wieder auszuziehen? Verreiſen wir nicht, um wiederzukehren? Und warum ſollten wir nicht wuͤnſchen, neben den Unſrigen zu ruhen, und wenn es auch nur fuͤr ein Jahrhundert waͤre.“ „Wenn man die vielen verſunkenen, die durch Kirchgaͤnger abgetretenen Grabſteine, die uͤber ihren Grabmaͤlern ſelbſt zuſammen¬ geſtuͤrzten Kirchen erblickt; ſo kann einem das Leben nach dem Tode doch immer wie ein zweytes Leben vorkommen, in das man nun im Bilde, in der Ueberſchrift eintritt und laͤnger darin verweilt als in dem eigentlichen lebendigen Leben. Aber auch dieſes Bild, dieſes zweyte Daſeyn verliſcht fruͤher oder ſpaͤter. Wie uͤber die Menſchen ſo auch uͤber die Denkmaͤler laͤßt ſich die Zeit ihr Recht nicht nehmen.“

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/33>, abgerufen am 19.04.2024.