Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

Bild:
<< vorherige Seite

Sie nahm den Faden in die Hand; und
da es ihr Ernst war, hielt sie ihn stät und
ohne Gemüthsbewegung; allein auch nicht das
mindeste Schwanken war zu bemerken. Darauf
ward Ottilie veranlaßt. Sie hielt den Pendel
noch ruhiger, unbefangner, unbewußter über
die unterliegenden Metalle. Aber in dem
Augenblicke ward das schwebende wie in einem
entschiedenen Wirbel fortgerissen und drehte
sich, je nachdem man die Unterlage wechselte,
bald nach der einen, bald nach der andern
Seite, jetzt in Kreisen, jetzt in Ellipsen, oder
nahm seinen Schwung in graden Linien, wie
es der Begleiter nur erwarten konnte, ja über
alle seine Erwartung.

Der Lord selbst stutzte eingermaßen, aber
der andere konnte vor Lust und Begierde gar
nicht enden und bat immer um Wiederholung
und Vermannigfaltigung der Versuche. Ottilie
war gefällig genug sich in sein Verlangen zu
finden, bis sie ihn zuletzt freundlich ersuchte,

Sie nahm den Faden in die Hand; und
da es ihr Ernſt war, hielt ſie ihn ſtaͤt und
ohne Gemuͤthsbewegung; allein auch nicht das
mindeſte Schwanken war zu bemerken. Darauf
ward Ottilie veranlaßt. Sie hielt den Pendel
noch ruhiger, unbefangner, unbewußter uͤber
die unterliegenden Metalle. Aber in dem
Augenblicke ward das ſchwebende wie in einem
entſchiedenen Wirbel fortgeriſſen und drehte
ſich, je nachdem man die Unterlage wechſelte,
bald nach der einen, bald nach der andern
Seite, jetzt in Kreiſen, jetzt in Ellipſen, oder
nahm ſeinen Schwung in graden Linien, wie
es der Begleiter nur erwarten konnte, ja uͤber
alle ſeine Erwartung.

Der Lord ſelbſt ſtutzte eingermaßen, aber
der andere konnte vor Luſt und Begierde gar
nicht enden und bat immer um Wiederholung
und Vermannigfaltigung der Verſuche. Ottilie
war gefaͤllig genug ſich in ſein Verlangen zu
finden, bis ſie ihn zuletzt freundlich erſuchte,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0226" n="223"/>
        <p>Sie nahm den Faden in die Hand; und<lb/>
da es ihr Ern&#x017F;t war, hielt &#x017F;ie ihn &#x017F;ta&#x0364;t und<lb/>
ohne Gemu&#x0364;thsbewegung; allein auch nicht das<lb/>
minde&#x017F;te Schwanken war zu bemerken. Darauf<lb/>
ward Ottilie veranlaßt. Sie hielt den Pendel<lb/>
noch ruhiger, unbefangner, unbewußter u&#x0364;ber<lb/>
die unterliegenden Metalle. Aber in dem<lb/>
Augenblicke ward das &#x017F;chwebende wie in einem<lb/>
ent&#x017F;chiedenen Wirbel fortgeri&#x017F;&#x017F;en und drehte<lb/>
&#x017F;ich, je nachdem man die Unterlage wech&#x017F;elte,<lb/>
bald nach der einen, bald nach der andern<lb/>
Seite, jetzt in Krei&#x017F;en, jetzt in Ellip&#x017F;en, oder<lb/>
nahm &#x017F;einen Schwung in graden Linien, wie<lb/>
es der Begleiter nur erwarten konnte, ja u&#x0364;ber<lb/>
alle &#x017F;eine Erwartung.</p><lb/>
        <p>Der Lord &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;tutzte eingermaßen, aber<lb/>
der andere konnte vor Lu&#x017F;t und Begierde gar<lb/>
nicht enden und bat immer um Wiederholung<lb/>
und Vermannigfaltigung der Ver&#x017F;uche. Ottilie<lb/>
war gefa&#x0364;llig genug &#x017F;ich in &#x017F;ein Verlangen zu<lb/>
finden, bis &#x017F;ie ihn zuletzt freundlich er&#x017F;uchte,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[223/0226] Sie nahm den Faden in die Hand; und da es ihr Ernſt war, hielt ſie ihn ſtaͤt und ohne Gemuͤthsbewegung; allein auch nicht das mindeſte Schwanken war zu bemerken. Darauf ward Ottilie veranlaßt. Sie hielt den Pendel noch ruhiger, unbefangner, unbewußter uͤber die unterliegenden Metalle. Aber in dem Augenblicke ward das ſchwebende wie in einem entſchiedenen Wirbel fortgeriſſen und drehte ſich, je nachdem man die Unterlage wechſelte, bald nach der einen, bald nach der andern Seite, jetzt in Kreiſen, jetzt in Ellipſen, oder nahm ſeinen Schwung in graden Linien, wie es der Begleiter nur erwarten konnte, ja uͤber alle ſeine Erwartung. Der Lord ſelbſt ſtutzte eingermaßen, aber der andere konnte vor Luſt und Begierde gar nicht enden und bat immer um Wiederholung und Vermannigfaltigung der Verſuche. Ottilie war gefaͤllig genug ſich in ſein Verlangen zu finden, bis ſie ihn zuletzt freundlich erſuchte,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/226
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/226>, abgerufen am 22.11.2024.