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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809.

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mit einer zarten Säure verbunden, die uns
in Luftform bekannt geworden ist. Bringt
man ein Stück solchen Steines in verdünnte
Schwefelsäure, so ergreift diese den Kalk und
erscheint mit ihm als Gyps; jene zarte luf¬
tige Säure hingegen entflieht. Hier ist eine
Trennung, eine neue Zusammensetzung ent¬
standen und man glaubt sich nunmehr berech¬
tigt, sogar das Wort Wahlverwandtschaft an¬
zuwenden, weil es wirklich aussieht als
wenn ein Verhältniß dem andern vorgezogen,
eins vor dem andern erwählt würde.

Verzeihen Sie mir, sagte Charlotte, wie
ich dem Naturforscher verzeihe; aber ich wür¬
de hier niemals eine Wahl, eher eine Na¬
turnothwendigkeit erblicken, und diese kaum:
denn es ist am Ende vielleicht gar nur die
Sache der Gelegenheit. Gelegenheit macht
Verhältnisse wie sie Diebe macht; und wenn
von Ihren Naturkörpern die Rede ist, so
scheint mir die Wahl blos in den Händen

mit einer zarten Saͤure verbunden, die uns
in Luftform bekannt geworden iſt. Bringt
man ein Stuͤck ſolchen Steines in verduͤnnte
Schwefelſaͤure, ſo ergreift dieſe den Kalk und
erſcheint mit ihm als Gyps; jene zarte luf¬
tige Saͤure hingegen entflieht. Hier iſt eine
Trennung, eine neue Zuſammenſetzung ent¬
ſtanden und man glaubt ſich nunmehr berech¬
tigt, ſogar das Wort Wahlverwandtſchaft an¬
zuwenden, weil es wirklich ausſieht als
wenn ein Verhaͤltniß dem andern vorgezogen,
eins vor dem andern erwaͤhlt wuͤrde.

Verzeihen Sie mir, ſagte Charlotte, wie
ich dem Naturforſcher verzeihe; aber ich wuͤr¬
de hier niemals eine Wahl, eher eine Na¬
turnothwendigkeit erblicken, und dieſe kaum:
denn es iſt am Ende vielleicht gar nur die
Sache der Gelegenheit. Gelegenheit macht
Verhaͤltniſſe wie ſie Diebe macht; und wenn
von Ihren Naturkoͤrpern die Rede iſt, ſo
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[85/0090] mit einer zarten Saͤure verbunden, die uns in Luftform bekannt geworden iſt. Bringt man ein Stuͤck ſolchen Steines in verduͤnnte Schwefelſaͤure, ſo ergreift dieſe den Kalk und erſcheint mit ihm als Gyps; jene zarte luf¬ tige Saͤure hingegen entflieht. Hier iſt eine Trennung, eine neue Zuſammenſetzung ent¬ ſtanden und man glaubt ſich nunmehr berech¬ tigt, ſogar das Wort Wahlverwandtſchaft an¬ zuwenden, weil es wirklich ausſieht als wenn ein Verhaͤltniß dem andern vorgezogen, eins vor dem andern erwaͤhlt wuͤrde. Verzeihen Sie mir, ſagte Charlotte, wie ich dem Naturforſcher verzeihe; aber ich wuͤr¬ de hier niemals eine Wahl, eher eine Na¬ turnothwendigkeit erblicken, und dieſe kaum: denn es iſt am Ende vielleicht gar nur die Sache der Gelegenheit. Gelegenheit macht Verhaͤltniſſe wie ſie Diebe macht; und wenn von Ihren Naturkoͤrpern die Rede iſt, ſo ſcheint mir die Wahl blos in den Haͤnden

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/90>, abgerufen am 23.11.2024.