Von diesem einsamen Freunde können wir soviel sagen, daß er sich im Stillen dem Gefühl seiner Leidenschaft ganz überließ und dabey mancherley Plane sich ausdachte, man¬ cherley Hoffnungen nährte. Er konnte sich nicht läugnen, daß er Ottilien hier zu sehen wün¬ sche, daß er wünsche sie hieher zu führen, zu locken, und was er sich sonst noch Erlaubtes und Unerlaubtes zu denken nicht verwehrte. Dann schwankte seine Einbildungskraft in al¬ len Möglichkeiten herum. Sollte er sie hier nicht besitzen, nicht rechtmäßig besitzen können, so wollte er ihr den Besitz des Gutes zueignen. Hier sollte sie still für sich, unabhängig leben; sie sollte glücklich seyn, und wenn ihn eine selbstquälerische Ein¬ bildungskraft noch weiter führte, vielleicht mit einem Andern glücklich seyn.
So verflossen ihm seine Tage in einem ewigen Schwanken zwischen Hoffnung und Schmerz, zwischen Thränen und Heiterkeit,
I. 19
Von dieſem einſamen Freunde koͤnnen wir ſoviel ſagen, daß er ſich im Stillen dem Gefuͤhl ſeiner Leidenſchaft ganz uͤberließ und dabey mancherley Plane ſich ausdachte, man¬ cherley Hoffnungen naͤhrte. Er konnte ſich nicht laͤugnen, daß er Ottilien hier zu ſehen wuͤn¬ ſche, daß er wuͤnſche ſie hieher zu fuͤhren, zu locken, und was er ſich ſonſt noch Erlaubtes und Unerlaubtes zu denken nicht verwehrte. Dann ſchwankte ſeine Einbildungskraft in al¬ len Moͤglichkeiten herum. Sollte er ſie hier nicht beſitzen, nicht rechtmaͤßig beſitzen koͤnnen, ſo wollte er ihr den Beſitz des Gutes zueignen. Hier ſollte ſie ſtill fuͤr ſich, unabhaͤngig leben; ſie ſollte gluͤcklich ſeyn, und wenn ihn eine ſelbſtquaͤleriſche Ein¬ bildungskraft noch weiter fuͤhrte, vielleicht mit einem Andern gluͤcklich ſeyn.
So verfloſſen ihm ſeine Tage in einem ewigen Schwanken zwiſchen Hoffnung und Schmerz, zwiſchen Thraͤnen und Heiterkeit,
I. 19
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0294"n="289"/><p>Von dieſem einſamen Freunde koͤnnen wir<lb/>ſoviel ſagen, daß er ſich im Stillen dem<lb/>
Gefuͤhl ſeiner Leidenſchaft ganz uͤberließ und<lb/>
dabey mancherley Plane ſich ausdachte, man¬<lb/>
cherley Hoffnungen naͤhrte. Er konnte ſich nicht<lb/>
laͤugnen, daß er Ottilien hier zu ſehen wuͤn¬<lb/>ſche, daß er wuͤnſche ſie hieher zu fuͤhren, zu<lb/>
locken, und was er ſich ſonſt noch Erlaubtes<lb/>
und Unerlaubtes zu denken nicht verwehrte.<lb/>
Dann ſchwankte ſeine Einbildungskraft in al¬<lb/>
len Moͤglichkeiten herum. Sollte er ſie<lb/>
hier nicht beſitzen, nicht rechtmaͤßig beſitzen<lb/>
koͤnnen, ſo wollte er ihr den Beſitz des<lb/>
Gutes zueignen. Hier ſollte ſie ſtill fuͤr<lb/>ſich, unabhaͤngig leben; ſie ſollte gluͤcklich<lb/>ſeyn, und wenn ihn eine ſelbſtquaͤleriſche Ein¬<lb/>
bildungskraft noch weiter fuͤhrte, vielleicht<lb/>
mit einem Andern gluͤcklich ſeyn.</p><lb/><p>So verfloſſen ihm ſeine Tage in einem<lb/>
ewigen Schwanken zwiſchen Hoffnung und<lb/>
Schmerz, zwiſchen Thraͤnen und Heiterkeit,<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#aq">I</hi>. 19<lb/></fw></p></div></body></text></TEI>
[289/0294]
Von dieſem einſamen Freunde koͤnnen wir
ſoviel ſagen, daß er ſich im Stillen dem
Gefuͤhl ſeiner Leidenſchaft ganz uͤberließ und
dabey mancherley Plane ſich ausdachte, man¬
cherley Hoffnungen naͤhrte. Er konnte ſich nicht
laͤugnen, daß er Ottilien hier zu ſehen wuͤn¬
ſche, daß er wuͤnſche ſie hieher zu fuͤhren, zu
locken, und was er ſich ſonſt noch Erlaubtes
und Unerlaubtes zu denken nicht verwehrte.
Dann ſchwankte ſeine Einbildungskraft in al¬
len Moͤglichkeiten herum. Sollte er ſie
hier nicht beſitzen, nicht rechtmaͤßig beſitzen
koͤnnen, ſo wollte er ihr den Beſitz des
Gutes zueignen. Hier ſollte ſie ſtill fuͤr
ſich, unabhaͤngig leben; ſie ſollte gluͤcklich
ſeyn, und wenn ihn eine ſelbſtquaͤleriſche Ein¬
bildungskraft noch weiter fuͤhrte, vielleicht
mit einem Andern gluͤcklich ſeyn.
So verfloſſen ihm ſeine Tage in einem
ewigen Schwanken zwiſchen Hoffnung und
Schmerz, zwiſchen Thraͤnen und Heiterkeit,
I. 19
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/294>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.