sichtszüge verwandelten sich. Nie hatte ihn etwas mehr verdrossen: er war in seinen liebsten Forderungen angegriffen, er war sich eines kindlichen Strebens ohne die mindeste Anmaßung bewußt. Was ihn unterhielt, was ihn erfreute, sollte doch mit Schonung von Freunden behandelt werden. Er dachte nicht, wie schrecklich es für einen Dritten sey, sich die Ohren durch ein unzulängliches Talent verletzen zu lassen. Er war beleidigt, wü¬ thend um nicht wieder zu vergeben. Er fühlte sich von allen Pflichten losgesprochen.
Die Nothwendigkeit mit Ottilien zu seyn, sie zu sehen, ihr etwas zuzuflüstern, ihr zu vertrauen, wuchs mit jedem Tage. Er ent¬ schloß sich ihr zu schreiben, sie um einen ge¬ heimen Briefwechsel zu bitten. Das Streif¬ chen Papier, worauf er dieß laconisch genug gethan hatte, lag auf dem Schreibtisch und ward vom Zugwind heruntergeführt, als der Kammerdiener hereintrat, ihm die Haare zu
ſichtszuͤge verwandelten ſich. Nie hatte ihn etwas mehr verdroſſen: er war in ſeinen liebſten Forderungen angegriffen, er war ſich eines kindlichen Strebens ohne die mindeſte Anmaßung bewußt. Was ihn unterhielt, was ihn erfreute, ſollte doch mit Schonung von Freunden behandelt werden. Er dachte nicht, wie ſchrecklich es fuͤr einen Dritten ſey, ſich die Ohren durch ein unzulaͤngliches Talent verletzen zu laſſen. Er war beleidigt, wuͤ¬ thend um nicht wieder zu vergeben. Er fuͤhlte ſich von allen Pflichten losgeſprochen.
Die Nothwendigkeit mit Ottilien zu ſeyn, ſie zu ſehen, ihr etwas zuzufluͤſtern, ihr zu vertrauen, wuchs mit jedem Tage. Er ent¬ ſchloß ſich ihr zu ſchreiben, ſie um einen ge¬ heimen Briefwechſel zu bitten. Das Streif¬ chen Papier, worauf er dieß laconiſch genug gethan hatte, lag auf dem Schreibtiſch und ward vom Zugwind heruntergefuͤhrt, als der Kammerdiener hereintrat, ihm die Haare zu
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ſichtszuͤge verwandelten ſich. Nie hatte ihn
etwas mehr verdroſſen: er war in ſeinen
liebſten Forderungen angegriffen, er war ſich
eines kindlichen Strebens ohne die mindeſte
Anmaßung bewußt. Was ihn unterhielt, was
ihn erfreute, ſollte doch mit Schonung von
Freunden behandelt werden. Er dachte nicht,
wie ſchrecklich es fuͤr einen Dritten ſey, ſich
die Ohren durch ein unzulaͤngliches Talent
verletzen zu laſſen. Er war beleidigt, wuͤ¬
thend um nicht wieder zu vergeben. Er fuͤhlte
ſich von allen Pflichten losgeſprochen.
Die Nothwendigkeit mit Ottilien zu ſeyn,
ſie zu ſehen, ihr etwas zuzufluͤſtern, ihr zu
vertrauen, wuchs mit jedem Tage. Er ent¬
ſchloß ſich ihr zu ſchreiben, ſie um einen ge¬
heimen Briefwechſel zu bitten. Das Streif¬
chen Papier, worauf er dieß laconiſch genug
gethan hatte, lag auf dem Schreibtiſch und
ward vom Zugwind heruntergefuͤhrt, als der
Kammerdiener hereintrat, ihm die Haare zu
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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/235>, abgerufen am 25.11.2024.
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