Der abnehmende Mond steigt über den Wald hervor. Die warme Nacht lockt Edu¬ arden ins Freye; er schweift umher, er ist der unruhigste und der glücklichste aller Sterb¬ lichen. Er wandelt durch die Gärten; sie sind ihm zu enge; er eilt auf das Feld, und es wird ihm zu weit. Nach dem Schlosse zieht es ihn zurück; er findet sich unter Otti¬ liens Fenstern. Dort setzt er sich auf eine Terrassentreppe. Mauern und Riegel, sagt er zu sich selbst, trennen uns jetzt, aber unsre Herzen sind nicht getrennt. Stünde sie vor mir, in meine Arme würde sie fallen, ich in die ihrigen, und was bedarf es weiter als diese Gewißheit! Alles war still um ihn her, kein Lüftchen regte sich, so still war's, daß er das wühlende Arbeiten emsiger Thiere un¬ ter der Erde vernehmen konnte, denen Tag und Nacht gleich sind. Er hing ganz seinen glücklichen Träumen nach, schlief endlich ein und erwachte nicht eher wieder als bis die
Der abnehmende Mond ſteigt uͤber den Wald hervor. Die warme Nacht lockt Edu¬ arden ins Freye; er ſchweift umher, er iſt der unruhigſte und der gluͤcklichſte aller Sterb¬ lichen. Er wandelt durch die Gaͤrten; ſie ſind ihm zu enge; er eilt auf das Feld, und es wird ihm zu weit. Nach dem Schloſſe zieht es ihn zuruͤck; er findet ſich unter Otti¬ liens Fenſtern. Dort ſetzt er ſich auf eine Terraſſentreppe. Mauern und Riegel, ſagt er zu ſich ſelbſt, trennen uns jetzt, aber unſre Herzen ſind nicht getrennt. Stuͤnde ſie vor mir, in meine Arme wuͤrde ſie fallen, ich in die ihrigen, und was bedarf es weiter als dieſe Gewißheit! Alles war ſtill um ihn her, kein Luͤftchen regte ſich, ſo ſtill war's, daß er das wuͤhlende Arbeiten emſiger Thiere un¬ ter der Erde vernehmen konnte, denen Tag und Nacht gleich ſind. Er hing ganz ſeinen gluͤcklichen Traͤumen nach, ſchlief endlich ein und erwachte nicht eher wieder als bis die
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Der abnehmende Mond ſteigt uͤber den
Wald hervor. Die warme Nacht lockt Edu¬
arden ins Freye; er ſchweift umher, er iſt
der unruhigſte und der gluͤcklichſte aller Sterb¬
lichen. Er wandelt durch die Gaͤrten; ſie
ſind ihm zu enge; er eilt auf das Feld, und
es wird ihm zu weit. Nach dem Schloſſe
zieht es ihn zuruͤck; er findet ſich unter Otti¬
liens Fenſtern. Dort ſetzt er ſich auf eine
Terraſſentreppe. Mauern und Riegel, ſagt
er zu ſich ſelbſt, trennen uns jetzt, aber unſre
Herzen ſind nicht getrennt. Stuͤnde ſie vor
mir, in meine Arme wuͤrde ſie fallen, ich in
die ihrigen, und was bedarf es weiter als
dieſe Gewißheit! Alles war ſtill um ihn her,
kein Luͤftchen regte ſich, ſo ſtill war's, daß
er das wuͤhlende Arbeiten emſiger Thiere un¬
ter der Erde vernehmen konnte, denen Tag
und Nacht gleich ſind. Er hing ganz ſeinen
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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/228>, abgerufen am 26.11.2024.
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