Goethe, Johann Wolfgang von: Torquato Tasso. Leipzig, 1790.Torquato Tasso Gar mancher Abgrund, den das Schicksalgrub; Doch hier in unserm Herzen ist der tiefste, Und reitzend ist es sich hinab zu stürzen. Ich bitte dich, entreiße dich dir selbst! Der Mensch gewinnt, was der Poet verliert. Tasso. Ich halte diesen Drang vergebens auf, Der Tag und Nacht in meinem Busen wech- selt. Wenn ich nicht sinnen oder dichten soll, So ist das Leben mir kein Leben mehr. Verbiethe du dem Seidenwurm zu spinnen, Wenn er sich schon dem Tode näher spinnt. Das köstliche Geweb' entwickelt er Aus seinem Innersten, und läßt nicht ab, Bis er in seinen Sarg sich eingeschlossen. O geb' ein guter Gott uns auch dereinst Das Schicksal des beneidenswerthen Wurms, Im neuen Sonnenthal die Flügel rasch Und freudig zu entfalten! Torquato Taſſo Gar mancher Abgrund, den das Schickſalgrub; Doch hier in unſerm Herzen iſt der tiefſte, Und reitzend iſt es ſich hinab zu ſtürzen. Ich bitte dich, entreiße dich dir ſelbſt! Der Menſch gewinnt, was der Poet verliert. Taſſo. Ich halte dieſen Drang vergebens auf, Der Tag und Nacht in meinem Buſen wech- ſelt. Wenn ich nicht ſinnen oder dichten ſoll, So iſt das Leben mir kein Leben mehr. Verbiethe du dem Seidenwurm zu ſpinnen, Wenn er ſich ſchon dem Tode näher ſpinnt. Das köſtliche Geweb’ entwickelt er Aus ſeinem Innerſten, und läßt nicht ab, Bis er in ſeinen Sarg ſich eingeſchloſſen. O geb’ ein guter Gott uns auch dereinſt Das Schickſal des beneidenswerthen Wurms, Im neuen Sonnenthal die Flügel raſch Und freudig zu entfalten! <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <sp who="#ALP"> <p><pb facs="#f0206" n="198"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Torquato Taſſo</hi></fw><lb/> Gar mancher Abgrund, den das Schickſal<lb/> grub;<lb/> Doch hier in unſerm Herzen iſt der tiefſte,<lb/> Und reitzend iſt es ſich hinab zu ſtürzen.<lb/> Ich bitte dich, entreiße dich dir ſelbſt!<lb/> Der Menſch gewinnt, was der Poet verliert.</p> </sp><lb/> <sp who="#TAS"> <speaker><hi rendition="#g">Taſſo</hi>.</speaker><lb/> <p>Ich halte dieſen Drang vergebens auf,<lb/> Der Tag und Nacht in meinem Buſen wech-<lb/> ſelt.<lb/> Wenn ich nicht ſinnen oder dichten ſoll,<lb/> So iſt das Leben mir kein Leben mehr.<lb/> Verbiethe du dem Seidenwurm zu ſpinnen,<lb/> Wenn er ſich ſchon dem Tode näher ſpinnt.<lb/> Das köſtliche Geweb’ entwickelt er<lb/> Aus ſeinem Innerſten, und läßt nicht ab,<lb/> Bis er in ſeinen Sarg ſich eingeſchloſſen.<lb/> O geb’ ein guter Gott uns auch dereinſt<lb/> Das Schickſal des beneidenswerthen Wurms,<lb/> Im neuen Sonnenthal die Flügel raſch<lb/> Und freudig zu entfalten!</p> </sp><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [198/0206]
Torquato Taſſo
Gar mancher Abgrund, den das Schickſal
grub;
Doch hier in unſerm Herzen iſt der tiefſte,
Und reitzend iſt es ſich hinab zu ſtürzen.
Ich bitte dich, entreiße dich dir ſelbſt!
Der Menſch gewinnt, was der Poet verliert.
Taſſo.
Ich halte dieſen Drang vergebens auf,
Der Tag und Nacht in meinem Buſen wech-
ſelt.
Wenn ich nicht ſinnen oder dichten ſoll,
So iſt das Leben mir kein Leben mehr.
Verbiethe du dem Seidenwurm zu ſpinnen,
Wenn er ſich ſchon dem Tode näher ſpinnt.
Das köſtliche Geweb’ entwickelt er
Aus ſeinem Innerſten, und läßt nicht ab,
Bis er in ſeinen Sarg ſich eingeſchloſſen.
O geb’ ein guter Gott uns auch dereinſt
Das Schickſal des beneidenswerthen Wurms,
Im neuen Sonnenthal die Flügel raſch
Und freudig zu entfalten!
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