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Goethe, Johann Wolfgang von: Torquato Tasso. Leipzig, 1790.

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Torquato Tasso
Die Tage, wo dein Geist mit freyer Sehn-
sucht
Des Himmels ausgespanntes Blau durch-
drang?
Und dennoch lebst du noch, und fühlst dich an,
Du fühlst dich an, und weißt nicht ob du lebst.
Ist's meine Schuld, ist's eines andern Schuld,
Daß ich mich nun als schuldig hier befinde?
Hab' ich verbrochen, daß ich leiden soll?
Ist nicht mein ganzer Fehler ein Verdienst?
Ich sah ihn an, und ward vom guten Willen,
Vom Hoffnungswahn des Herzens übereilt:
Der sey ein Mensch, der menschlich Ansehn
trägt.
Ich ging mit off'nen Armen auf ihn los,
Und fühlte Schloß und Riegel, keine Brust.
O hatt' ich doch so klug mir ausgedacht,
Wie ich den Mann empfangen wollte, der
Von alten Zeiten mir verdächtig war!
Allein was immer dir begegnet sey,
So halte dich an der Gewißheit fest:
Ich habe sie gesehn! Sie stand vor mir!
Torquato Taſſo
Die Tage, wo dein Geiſt mit freyer Sehn-
ſucht
Des Himmels ausgeſpanntes Blau durch-
drang?
Und dennoch lebſt du noch, und fühlſt dich an,
Du fühlſt dich an, und weißt nicht ob du lebſt.
Iſt’s meine Schuld, iſt’s eines andern Schuld,
Daß ich mich nun als ſchuldig hier befinde?
Hab’ ich verbrochen, daß ich leiden ſoll?
Iſt nicht mein ganzer Fehler ein Verdienſt?
Ich ſah ihn an, und ward vom guten Willen,
Vom Hoffnungswahn des Herzens übereilt:
Der ſey ein Menſch, der menſchlich Anſehn
trägt.
Ich ging mit off’nen Armen auf ihn los,
Und fühlte Schloß und Riegel, keine Bruſt.
O hatt’ ich doch ſo klug mir ausgedacht,
Wie ich den Mann empfangen wollte, der
Von alten Zeiten mir verdächtig war!
Allein was immer dir begegnet ſey,
So halte dich an der Gewißheit feſt:
Ich habe ſie geſehn! Sie ſtand vor mir!
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[142/0150] Torquato Taſſo Die Tage, wo dein Geiſt mit freyer Sehn- ſucht Des Himmels ausgeſpanntes Blau durch- drang? Und dennoch lebſt du noch, und fühlſt dich an, Du fühlſt dich an, und weißt nicht ob du lebſt. Iſt’s meine Schuld, iſt’s eines andern Schuld, Daß ich mich nun als ſchuldig hier befinde? Hab’ ich verbrochen, daß ich leiden ſoll? Iſt nicht mein ganzer Fehler ein Verdienſt? Ich ſah ihn an, und ward vom guten Willen, Vom Hoffnungswahn des Herzens übereilt: Der ſey ein Menſch, der menſchlich Anſehn trägt. Ich ging mit off’nen Armen auf ihn los, Und fühlte Schloß und Riegel, keine Bruſt. O hatt’ ich doch ſo klug mir ausgedacht, Wie ich den Mann empfangen wollte, der Von alten Zeiten mir verdächtig war! Allein was immer dir begegnet ſey, So halte dich an der Gewißheit feſt: Ich habe ſie geſehn! Sie ſtand vor mir!

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Torquato Tasso. Leipzig, 1790, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_torquato_1790/150>, abgerufen am 21.11.2024.