Goethe, Johann Wolfgang von: Die neue Melusine. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. 1–43. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Weltkinder schildert, das ihren gesetzten Zuschauern oft wie ein Märchen erscheint; so daß dem Hörer oder Leser aus der märchenhaften Verkleidung sofort Verhältnisse und Begebenheiten des wirklichen Lebens in die Augen springen müssen. Zu einer vollendeten Wirkung fehlt nur eine ausgeführtere Rahmenerzählung, worin etwa die Betroffenen selbst gegenwärtig wären und durch neckendes Hin- und Wiederwerfen des bunten Fangballs der Scherz gesteigert würde. Aehnlich war ja die Wirkung gleich bei dem ersten Erzählen, als der junge Dichter mit den beiden Mädchen und dem Freunde in der Sesenheimer Laube saß, in welche Erwin's von Steinbach Heimathberge nachbarlich über den Rhein herüber sahen. Die ältere Schwester lachte ausgelassen, die jüngere schüttelte den Kopf, und der Freund sagte nachher dem über seine "Fratzen" selbst bedenklich gewordenen Dichter: Die guten Kinder sind mit solchen Dingen gar nicht so unbekannt, als du glaubst; denn die große Gesellschaft um sie her giebt ihnen zu manchem Nachdenken Anlaß, und so ist überrhein gerade ein solches Ehepaar, wie du es, nur übertrieben und märchenhaft, schilderst. Er gerade so groß, derb und plump, sie niedlich und zierlich genug, daß er sie wohl auf der Hand tragen könnte. Ihr übriges Verhältniß, ihre Geschichte paßt ebenfalls so genau zu deiner Erzählung, daß die Mädchen mich ernstlich fragten, ob du die Personen kenntest und sie schalkhaft dargestellt hättest? -- Daß der Dichter dagegen versicherte, es sei ihm gar keine Beziehung in den Sinn gekommen, das ändert an dem Charakter der Märchennovelle nichts. Auch er hatte das Gefühl, daß dieselbe einer verdeutlichenden Abrundung auf festem Wirklichkeitsboden bedürfe. Daher, als er sie in das "Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1817" Weltkinder schildert, das ihren gesetzten Zuschauern oft wie ein Märchen erscheint; so daß dem Hörer oder Leser aus der märchenhaften Verkleidung sofort Verhältnisse und Begebenheiten des wirklichen Lebens in die Augen springen müssen. Zu einer vollendeten Wirkung fehlt nur eine ausgeführtere Rahmenerzählung, worin etwa die Betroffenen selbst gegenwärtig wären und durch neckendes Hin- und Wiederwerfen des bunten Fangballs der Scherz gesteigert würde. Aehnlich war ja die Wirkung gleich bei dem ersten Erzählen, als der junge Dichter mit den beiden Mädchen und dem Freunde in der Sesenheimer Laube saß, in welche Erwin's von Steinbach Heimathberge nachbarlich über den Rhein herüber sahen. Die ältere Schwester lachte ausgelassen, die jüngere schüttelte den Kopf, und der Freund sagte nachher dem über seine „Fratzen“ selbst bedenklich gewordenen Dichter: Die guten Kinder sind mit solchen Dingen gar nicht so unbekannt, als du glaubst; denn die große Gesellschaft um sie her giebt ihnen zu manchem Nachdenken Anlaß, und so ist überrhein gerade ein solches Ehepaar, wie du es, nur übertrieben und märchenhaft, schilderst. Er gerade so groß, derb und plump, sie niedlich und zierlich genug, daß er sie wohl auf der Hand tragen könnte. Ihr übriges Verhältniß, ihre Geschichte paßt ebenfalls so genau zu deiner Erzählung, daß die Mädchen mich ernstlich fragten, ob du die Personen kenntest und sie schalkhaft dargestellt hättest? — Daß der Dichter dagegen versicherte, es sei ihm gar keine Beziehung in den Sinn gekommen, das ändert an dem Charakter der Märchennovelle nichts. Auch er hatte das Gefühl, daß dieselbe einer verdeutlichenden Abrundung auf festem Wirklichkeitsboden bedürfe. 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Ihr übriges Verhältniß, ihre Geschichte paßt ebenfalls so genau zu deiner Erzählung, daß die Mädchen mich ernstlich fragten, ob du die Personen kenntest und sie schalkhaft dargestellt hättest? — Daß der Dichter dagegen versicherte, es sei ihm gar keine Beziehung in den Sinn gekommen, das ändert an dem Charakter der Märchennovelle nichts.</p><lb/> <p>Auch er hatte das Gefühl, daß dieselbe einer verdeutlichenden Abrundung auf festem Wirklichkeitsboden bedürfe. Daher, als er sie in das „<bibl><ref target="http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/10615521/ft/bsb10925252?page=85">Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1817</ref></bibl>“<note type="editorial">Vgl. <bibl>Taschenbuch für Damen: auf das Jahr 1817. Tübingen: Cotta, 1817, S. [1]–24.</bibl> Online verfügbar: Bayerische Staatsbibliothek, URN: <ref target="http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10925252-4">urn:nbn:de:bvb:12-bsb10925252-4</ref>.<lb/></note> gab, setzte er ihr eine Einleitung vor, die wir, da jener Almanach wohl ziemlich<lb/></p> </div> </front> </text> </TEI> [0006]
Weltkinder schildert, das ihren gesetzten Zuschauern oft wie ein Märchen erscheint; so daß dem Hörer oder Leser aus der märchenhaften Verkleidung sofort Verhältnisse und Begebenheiten des wirklichen Lebens in die Augen springen müssen. Zu einer vollendeten Wirkung fehlt nur eine ausgeführtere Rahmenerzählung, worin etwa die Betroffenen selbst gegenwärtig wären und durch neckendes Hin- und Wiederwerfen des bunten Fangballs der Scherz gesteigert würde.
Aehnlich war ja die Wirkung gleich bei dem ersten Erzählen, als der junge Dichter mit den beiden Mädchen und dem Freunde in der Sesenheimer Laube saß, in welche Erwin's von Steinbach Heimathberge nachbarlich über den Rhein herüber sahen. Die ältere Schwester lachte ausgelassen, die jüngere schüttelte den Kopf, und der Freund sagte nachher dem über seine „Fratzen“ selbst bedenklich gewordenen Dichter: Die guten Kinder sind mit solchen Dingen gar nicht so unbekannt, als du glaubst; denn die große Gesellschaft um sie her giebt ihnen zu manchem Nachdenken Anlaß, und so ist überrhein gerade ein solches Ehepaar, wie du es, nur übertrieben und märchenhaft, schilderst. Er gerade so groß, derb und plump, sie niedlich und zierlich genug, daß er sie wohl auf der Hand tragen könnte. Ihr übriges Verhältniß, ihre Geschichte paßt ebenfalls so genau zu deiner Erzählung, daß die Mädchen mich ernstlich fragten, ob du die Personen kenntest und sie schalkhaft dargestellt hättest? — Daß der Dichter dagegen versicherte, es sei ihm gar keine Beziehung in den Sinn gekommen, das ändert an dem Charakter der Märchennovelle nichts.
Auch er hatte das Gefühl, daß dieselbe einer verdeutlichenden Abrundung auf festem Wirklichkeitsboden bedürfe. Daher, als er sie in das „Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1817“ gab, setzte er ihr eine Einleitung vor, die wir, da jener Almanach wohl ziemlich
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Zitationshilfe: | Goethe, Johann Wolfgang von: Die neue Melusine. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. 1–43. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_melusine_1910/6>, abgerufen am 05.07.2024. |