Goethe, Johann Wolfgang von: Die neue Melusine. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. 1–43. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.vorbrachte, sah ich sie bedenklich an, weil es schien, als ob sie Lust habe, mir etwas aufzubinden. Was ihre niedliche Herkunft betraf, daran hatte ich weiter keinen Zweifel; aber daß sie mich anstatt eines Ritters ergriffen hatte, das machte mir einiges Mißtrauen, indem ich mich denn doch zu wohl kannte, als daß ich hätte glauben sollen, meine Vorfahren seien von Gott unmittelbar erschaffen worden. Ich verbarg Verwunderung und Zweifel und fragte sie freundlich: Aber sage mir, mein liebes Kind, wie kommst du zu dieser großen und ansehnlichen Gestalt? Denn ich kenne wenig Frauen, die sich dir an prächtiger Bildung vergleichen können. -- Das sollst du erfahren, versetzte meine Schöne. Es ist von jeher im Rath der Zwergenkönige hergebracht, daß man sich so lange als möglich vor jedem außerordentlichen Schritt in Acht nehme, welches ich denn auch ganz natürlich und billig finde. Man hätte vielleicht noch lange gezaudert, eine Prinzessin wieder einmal in das Land zu senden, wenn nicht mein nachgeborner Bruder so klein ausgefallen wäre, daß ihn die Wärterinnen sogar aus den Windeln verloren haben und man nicht weiß, wo er hingekommen ist. Bei diesem in den Jahrbüchern ganz unerhörten Falle versammelte man die Weisen, und kurz und gut, der Entschluß ward gefaßt, mich auf die Freite zu schicken. Der Entschluß! rief ich aus; das ist wohl alles schön und gut. Man kann sich entschließen, man kann vorbrachte, sah ich sie bedenklich an, weil es schien, als ob sie Lust habe, mir etwas aufzubinden. Was ihre niedliche Herkunft betraf, daran hatte ich weiter keinen Zweifel; aber daß sie mich anstatt eines Ritters ergriffen hatte, das machte mir einiges Mißtrauen, indem ich mich denn doch zu wohl kannte, als daß ich hätte glauben sollen, meine Vorfahren seien von Gott unmittelbar erschaffen worden. Ich verbarg Verwunderung und Zweifel und fragte sie freundlich: Aber sage mir, mein liebes Kind, wie kommst du zu dieser großen und ansehnlichen Gestalt? Denn ich kenne wenig Frauen, die sich dir an prächtiger Bildung vergleichen können. — Das sollst du erfahren, versetzte meine Schöne. Es ist von jeher im Rath der Zwergenkönige hergebracht, daß man sich so lange als möglich vor jedem außerordentlichen Schritt in Acht nehme, welches ich denn auch ganz natürlich und billig finde. Man hätte vielleicht noch lange gezaudert, eine Prinzessin wieder einmal in das Land zu senden, wenn nicht mein nachgeborner Bruder so klein ausgefallen wäre, daß ihn die Wärterinnen sogar aus den Windeln verloren haben und man nicht weiß, wo er hingekommen ist. Bei diesem in den Jahrbüchern ganz unerhörten Falle versammelte man die Weisen, und kurz und gut, der Entschluß ward gefaßt, mich auf die Freite zu schicken. Der Entschluß! rief ich aus; das ist wohl alles schön und gut. Man kann sich entschließen, man kann <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="0"> <p><pb facs="#f0034"/> vorbrachte, sah ich sie bedenklich an, weil es schien, als ob sie Lust habe, mir etwas aufzubinden. Was ihre niedliche Herkunft betraf, daran hatte ich weiter keinen Zweifel; aber daß sie mich anstatt eines Ritters ergriffen hatte, das machte mir einiges Mißtrauen, indem ich mich denn doch zu wohl kannte, als daß ich hätte glauben sollen, meine Vorfahren seien von Gott unmittelbar erschaffen worden.</p><lb/> <p>Ich verbarg Verwunderung und Zweifel und fragte sie freundlich: Aber sage mir, mein liebes Kind, wie kommst du zu dieser großen und ansehnlichen Gestalt? Denn ich kenne wenig Frauen, die sich dir an prächtiger Bildung vergleichen können. — Das sollst du erfahren, versetzte meine Schöne. Es ist von jeher im Rath der Zwergenkönige hergebracht, daß man sich so lange als möglich vor jedem außerordentlichen Schritt in Acht nehme, welches ich denn auch ganz natürlich und billig finde. Man hätte vielleicht noch lange gezaudert, eine Prinzessin wieder einmal in das Land zu senden, wenn nicht mein nachgeborner Bruder so klein ausgefallen wäre, daß ihn die Wärterinnen sogar aus den Windeln verloren haben und man nicht weiß, wo er hingekommen ist. Bei diesem in den Jahrbüchern ganz unerhörten Falle versammelte man die Weisen, und kurz und gut, der Entschluß ward gefaßt, mich auf die Freite zu schicken.</p><lb/> <p>Der Entschluß! rief ich aus; das ist wohl alles schön und gut. Man kann sich entschließen, man kann<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0034]
vorbrachte, sah ich sie bedenklich an, weil es schien, als ob sie Lust habe, mir etwas aufzubinden. Was ihre niedliche Herkunft betraf, daran hatte ich weiter keinen Zweifel; aber daß sie mich anstatt eines Ritters ergriffen hatte, das machte mir einiges Mißtrauen, indem ich mich denn doch zu wohl kannte, als daß ich hätte glauben sollen, meine Vorfahren seien von Gott unmittelbar erschaffen worden.
Ich verbarg Verwunderung und Zweifel und fragte sie freundlich: Aber sage mir, mein liebes Kind, wie kommst du zu dieser großen und ansehnlichen Gestalt? Denn ich kenne wenig Frauen, die sich dir an prächtiger Bildung vergleichen können. — Das sollst du erfahren, versetzte meine Schöne. Es ist von jeher im Rath der Zwergenkönige hergebracht, daß man sich so lange als möglich vor jedem außerordentlichen Schritt in Acht nehme, welches ich denn auch ganz natürlich und billig finde. Man hätte vielleicht noch lange gezaudert, eine Prinzessin wieder einmal in das Land zu senden, wenn nicht mein nachgeborner Bruder so klein ausgefallen wäre, daß ihn die Wärterinnen sogar aus den Windeln verloren haben und man nicht weiß, wo er hingekommen ist. Bei diesem in den Jahrbüchern ganz unerhörten Falle versammelte man die Weisen, und kurz und gut, der Entschluß ward gefaßt, mich auf die Freite zu schicken.
Der Entschluß! rief ich aus; das ist wohl alles schön und gut. Man kann sich entschließen, man kann
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Zitationshilfe: | Goethe, Johann Wolfgang von: Die neue Melusine. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. 1–43. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_melusine_1910/34>, abgerufen am 16.02.2025. |