Goethe, Johann Wolfgang von: Die neue Melusine. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. 1–43. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Als ich den rothen Wein über das Tischtuch fließen sah, kam ich wieder zu mir selbst. Ich erkannte den großen Fehler, den ich begangen hatte, und war recht innerlich zerknirscht. Zum erstenmal sprach die Musik mich an, die erste Strophe, die sie sang, war ein freundlicher Abschied an die Gesellschaft, wie sie sich noch zusammen fühlen konnte. Bei der folgenden Strophe floß die Societät gleichsam aus einander. Jeder fühlte sich einzeln, abgesondert, Niemand glaubte sich mehr gegenwärtig. Aber was soll ich denn von der letzten Strophe sagen? Sie war allein an mich gerichtet, die Stimme der gekränkten Liebe, die von Unmuth und Uebermuth Abschied nimmt. Stumm führte ich sie nach Hause und erwartete mir nichts Gutes. Doch kaum waren wir in unser Zimmer gelangt, als sie sich höchst freundlich und anmuthig, ja sogar schalkhaft erwies und mich zum glücklichsten aller Menschen machte. Des andern Morgens sagte ich ganz getrost und liebevoll: Du hast so manchmal, durch gute Gesellschaft aufgefordert, gesungen, so zum Beispiel gestern Abend das rührende Abschiedslied; singe nun auch einmal mir zu Liebe ein hübsches, fröhliches Willkommen in dieser Morgenstunde, damit es uns werde, als wenn wir uns zum erstenmal kennen lernten. Das vermag ich nicht, mein Freund, versetzte sie mit Ernst. Das Lied von gestern Abend bezog sich auf unsere Scheidung, die nun sogleich vor sich gehen muß; Als ich den rothen Wein über das Tischtuch fließen sah, kam ich wieder zu mir selbst. Ich erkannte den großen Fehler, den ich begangen hatte, und war recht innerlich zerknirscht. Zum erstenmal sprach die Musik mich an, die erste Strophe, die sie sang, war ein freundlicher Abschied an die Gesellschaft, wie sie sich noch zusammen fühlen konnte. Bei der folgenden Strophe floß die Societät gleichsam aus einander. Jeder fühlte sich einzeln, abgesondert, Niemand glaubte sich mehr gegenwärtig. Aber was soll ich denn von der letzten Strophe sagen? Sie war allein an mich gerichtet, die Stimme der gekränkten Liebe, die von Unmuth und Uebermuth Abschied nimmt. Stumm führte ich sie nach Hause und erwartete mir nichts Gutes. Doch kaum waren wir in unser Zimmer gelangt, als sie sich höchst freundlich und anmuthig, ja sogar schalkhaft erwies und mich zum glücklichsten aller Menschen machte. Des andern Morgens sagte ich ganz getrost und liebevoll: Du hast so manchmal, durch gute Gesellschaft aufgefordert, gesungen, so zum Beispiel gestern Abend das rührende Abschiedslied; singe nun auch einmal mir zu Liebe ein hübsches, fröhliches Willkommen in dieser Morgenstunde, damit es uns werde, als wenn wir uns zum erstenmal kennen lernten. Das vermag ich nicht, mein Freund, versetzte sie mit Ernst. Das Lied von gestern Abend bezog sich auf unsere Scheidung, die nun sogleich vor sich gehen muß; <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="0"> <pb facs="#f0030"/> <p>Als ich den rothen Wein über das Tischtuch fließen sah, kam ich wieder zu mir selbst. Ich erkannte den großen Fehler, den ich begangen hatte, und war recht innerlich zerknirscht. Zum erstenmal sprach die Musik mich an, die erste Strophe, die sie sang, war ein freundlicher Abschied an die Gesellschaft, wie sie sich noch zusammen fühlen konnte. Bei der folgenden Strophe floß die Societät gleichsam aus einander. Jeder fühlte sich einzeln, abgesondert, Niemand glaubte sich mehr gegenwärtig. Aber was soll ich denn von der letzten Strophe sagen? Sie war allein an mich gerichtet, die Stimme der gekränkten Liebe, die von Unmuth und Uebermuth Abschied nimmt.</p><lb/> <p>Stumm führte ich sie nach Hause und erwartete mir nichts Gutes. Doch kaum waren wir in unser Zimmer gelangt, als sie sich höchst freundlich und anmuthig, ja sogar schalkhaft erwies und mich zum glücklichsten aller Menschen machte.</p><lb/> <p>Des andern Morgens sagte ich ganz getrost und liebevoll: Du hast so manchmal, durch gute Gesellschaft aufgefordert, gesungen, so zum Beispiel gestern Abend das rührende Abschiedslied; singe nun auch einmal mir zu Liebe ein hübsches, fröhliches Willkommen in dieser Morgenstunde, damit es uns werde, als wenn wir uns zum erstenmal kennen lernten.</p><lb/> <p>Das vermag ich nicht, mein Freund, versetzte sie mit Ernst. Das Lied von gestern Abend bezog sich auf unsere Scheidung, die nun sogleich vor sich gehen muß;<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0030]
Als ich den rothen Wein über das Tischtuch fließen sah, kam ich wieder zu mir selbst. Ich erkannte den großen Fehler, den ich begangen hatte, und war recht innerlich zerknirscht. Zum erstenmal sprach die Musik mich an, die erste Strophe, die sie sang, war ein freundlicher Abschied an die Gesellschaft, wie sie sich noch zusammen fühlen konnte. Bei der folgenden Strophe floß die Societät gleichsam aus einander. Jeder fühlte sich einzeln, abgesondert, Niemand glaubte sich mehr gegenwärtig. Aber was soll ich denn von der letzten Strophe sagen? Sie war allein an mich gerichtet, die Stimme der gekränkten Liebe, die von Unmuth und Uebermuth Abschied nimmt.
Stumm führte ich sie nach Hause und erwartete mir nichts Gutes. Doch kaum waren wir in unser Zimmer gelangt, als sie sich höchst freundlich und anmuthig, ja sogar schalkhaft erwies und mich zum glücklichsten aller Menschen machte.
Des andern Morgens sagte ich ganz getrost und liebevoll: Du hast so manchmal, durch gute Gesellschaft aufgefordert, gesungen, so zum Beispiel gestern Abend das rührende Abschiedslied; singe nun auch einmal mir zu Liebe ein hübsches, fröhliches Willkommen in dieser Morgenstunde, damit es uns werde, als wenn wir uns zum erstenmal kennen lernten.
Das vermag ich nicht, mein Freund, versetzte sie mit Ernst. Das Lied von gestern Abend bezog sich auf unsere Scheidung, die nun sogleich vor sich gehen muß;
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Zitationshilfe: | Goethe, Johann Wolfgang von: Die neue Melusine. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. 1–43. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_melusine_1910/30>, abgerufen am 05.07.2024. |