den Muth das Wagestück zu versuchen, und sich jene Nacht bey Ihnen einzuschleichen. Schon war sie vorausgelaufen, um sich in der unverschlossenen Stube zu verbergen, al¬ lein als sie eben die Treppe hinaufgekom¬ men war, hörte sie ein Geräusch, sie ver¬ barg sich, und sah ein weißes, weibliches Wesen in ihr Zimmer schleichen. Sie kamen selbst bald darauf, und sie hörte den großen Riegel zuschieben.
Mignon empfand unerhörte Qual, alle die heftigen Empfindungen einer leidenschaft¬ lichen Eifersucht mischten sich zu dem uner¬ kannten Verlangen einer dunkeln Begierde, und griffen die halb entwickelte Natur ge¬ waltsam an. Ihr Herz, das bisher vor Sehn¬ sucht und Erwartung lebhaft geschlagen hatte, fing auf einmal an zu stocken, und drückte, wie eine bleyerne Last, ihren Busen, sie konnte nicht zu Athem kommen, sie wußte
den Muth das Wageſtück zu verſuchen, und ſich jene Nacht bey Ihnen einzuſchleichen. Schon war ſie vorausgelaufen, um ſich in der unverſchloſſenen Stube zu verbergen, al¬ lein als ſie eben die Treppe hinaufgekom¬ men war, hörte ſie ein Geräuſch, ſie ver¬ barg ſich, und ſah ein weißes, weibliches Weſen in ihr Zimmer ſchleichen. Sie kamen ſelbſt bald darauf, und ſie hörte den großen Riegel zuſchieben.
Mignon empfand unerhörte Qual, alle die heftigen Empfindungen einer leidenſchaft¬ lichen Eiferſucht miſchten ſich zu dem uner¬ kannten Verlangen einer dunkeln Begierde, und griffen die halb entwickelte Natur ge¬ waltſam an. Ihr Herz, das bisher vor Sehn¬ ſucht und Erwartung lebhaft geſchlagen hatte, fing auf einmal an zu ſtocken, und drückte, wie eine bleyerne Laſt, ihren Buſen, ſie konnte nicht zu Athem kommen, ſie wußte
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0285"n="281"/>
den Muth das Wageſtück zu verſuchen, und<lb/>ſich jene Nacht bey Ihnen einzuſchleichen.<lb/>
Schon war ſie vorausgelaufen, um ſich in<lb/>
der unverſchloſſenen Stube zu verbergen, al¬<lb/>
lein als ſie eben die Treppe hinaufgekom¬<lb/>
men war, hörte ſie ein Geräuſch, ſie ver¬<lb/>
barg ſich, und ſah ein weißes, weibliches<lb/>
Weſen in ihr Zimmer ſchleichen. Sie kamen<lb/>ſelbſt bald darauf, und ſie hörte den großen<lb/>
Riegel zuſchieben.</p><lb/><p>Mignon empfand unerhörte Qual, alle<lb/>
die heftigen Empfindungen einer leidenſchaft¬<lb/>
lichen Eiferſucht miſchten ſich zu dem uner¬<lb/>
kannten Verlangen einer dunkeln Begierde,<lb/>
und griffen die halb entwickelte Natur ge¬<lb/>
waltſam an. Ihr Herz, das bisher vor Sehn¬<lb/>ſucht und Erwartung lebhaft geſchlagen hatte,<lb/>
fing auf einmal an zu ſtocken, und drückte,<lb/>
wie eine bleyerne Laſt, ihren Buſen, ſie<lb/>
konnte nicht zu Athem kommen, ſie wußte<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[281/0285]
den Muth das Wageſtück zu verſuchen, und
ſich jene Nacht bey Ihnen einzuſchleichen.
Schon war ſie vorausgelaufen, um ſich in
der unverſchloſſenen Stube zu verbergen, al¬
lein als ſie eben die Treppe hinaufgekom¬
men war, hörte ſie ein Geräuſch, ſie ver¬
barg ſich, und ſah ein weißes, weibliches
Weſen in ihr Zimmer ſchleichen. Sie kamen
ſelbſt bald darauf, und ſie hörte den großen
Riegel zuſchieben.
Mignon empfand unerhörte Qual, alle
die heftigen Empfindungen einer leidenſchaft¬
lichen Eiferſucht miſchten ſich zu dem uner¬
kannten Verlangen einer dunkeln Begierde,
und griffen die halb entwickelte Natur ge¬
waltſam an. Ihr Herz, das bisher vor Sehn¬
ſucht und Erwartung lebhaft geſchlagen hatte,
fing auf einmal an zu ſtocken, und drückte,
wie eine bleyerne Laſt, ihren Buſen, ſie
konnte nicht zu Athem kommen, ſie wußte
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/285>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.