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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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nicht abessen, und sein Behagen war nie¬
mals größer, als wenn man ihm nachsah,
daß er den Bissen unmittelbar aus der Schüs¬
sel nehmen, das volle Glas stehen lassen
und aus der Flasche trinken konnte; so war
er auch ganz allerliebst, wenn er sich mit
einem Buche in die Ecke setzte, und sehr
ernsthaft sagte: ich muß das gelehrte Zeug
studiren! ob er gleich die Buchstaben noch
lange weder unterscheiden konnte noch wollte.

Bedachte nun Wilhelm, wie wenig er
bisher für das Kind gethan hatte, wie we¬
nig er zu thun fähig sey, so entstand eine
Unruhe in ihm, die sein ganzes Glück auf¬
zuwiegen im Stande war. Sind wir Män¬
ner denn, sagte er zu sich, so selbstisch ge¬
bohren, daß wir unmöglich für ein Wesen
außer uns Sorge tragen können? Bin ich
mit dem Knaben nicht eben auf dem Wege,
auf dem ich mit Mignon war? ich zog das

nicht abeſſen, und ſein Behagen war nie¬
mals größer, als wenn man ihm nachſah,
daß er den Biſſen unmittelbar aus der Schüſ¬
ſel nehmen, das volle Glas ſtehen laſſen
und aus der Flaſche trinken konnte; ſo war
er auch ganz allerliebſt, wenn er ſich mit
einem Buche in die Ecke ſetzte, und ſehr
ernſthaft ſagte: ich muß das gelehrte Zeug
ſtudiren! ob er gleich die Buchſtaben noch
lange weder unterſcheiden konnte noch wollte.

Bedachte nun Wilhelm, wie wenig er
bisher für das Kind gethan hatte, wie we¬
nig er zu thun fähig ſey, ſo entſtand eine
Unruhe in ihm, die ſein ganzes Glück auf¬
zuwiegen im Stande war. Sind wir Män¬
ner denn, ſagte er zu ſich, ſo ſelbſtiſch ge¬
bohren, daß wir unmöglich für ein Weſen
außer uns Sorge tragen können? Bin ich
mit dem Knaben nicht eben auf dem Wege,
auf dem ich mit Mignon war? ich zog das

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[228/0232] nicht abeſſen, und ſein Behagen war nie¬ mals größer, als wenn man ihm nachſah, daß er den Biſſen unmittelbar aus der Schüſ¬ ſel nehmen, das volle Glas ſtehen laſſen und aus der Flaſche trinken konnte; ſo war er auch ganz allerliebſt, wenn er ſich mit einem Buche in die Ecke ſetzte, und ſehr ernſthaft ſagte: ich muß das gelehrte Zeug ſtudiren! ob er gleich die Buchſtaben noch lange weder unterſcheiden konnte noch wollte. Bedachte nun Wilhelm, wie wenig er bisher für das Kind gethan hatte, wie we¬ nig er zu thun fähig ſey, ſo entſtand eine Unruhe in ihm, die ſein ganzes Glück auf¬ zuwiegen im Stande war. Sind wir Män¬ ner denn, ſagte er zu ſich, ſo ſelbſtiſch ge¬ bohren, daß wir unmöglich für ein Weſen außer uns Sorge tragen können? Bin ich mit dem Knaben nicht eben auf dem Wege, auf dem ich mit Mignon war? ich zog das

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/232>, abgerufen am 23.11.2024.