gen lag, sah ich doch, daß sie sich am Zaune beschäftigte, der sie nur leicht bedeckte. Ich glaubte meine alte Geliebte zu erkennen. Da ich an sie kam, hielt ich still, nicht ohne Regung des Herzens. Einige hohe Zweige wilder Rosen, die eine leise Luft hin und her wehte, machten mir ihre Gestalt undeut¬ lich. Ich redete sie an, und fragte wie sie lebe? Sie antwortete mir mit halber Stim¬ me: ganz wohl. Indeß bemerkte ich, daß ein Kind hinter dem Zaune beschäftigt war Blumen auszureissen, und nahm die Gele¬ genheit sie zu fragen: wo denn ihre übrigen Kinder seyen? Es ist nicht mein Kind, sagte sie, das wäre früh! und in diesem Augen¬ blick schickte sichs, daß ich durch die Zweige ihr Gesicht genau sehen konnte, und ich wußte nicht, was ich zu der Erscheinung sa¬ gen sollte. Es war meine Geliebte und war es nicht. Fast jünger, fast schöner als ich
gen lag, ſah ich doch, daß ſie ſich am Zaune beſchäftigte, der ſie nur leicht bedeckte. Ich glaubte meine alte Geliebte zu erkennen. Da ich an ſie kam, hielt ich ſtill, nicht ohne Regung des Herzens. Einige hohe Zweige wilder Roſen, die eine leiſe Luft hin und her wehte, machten mir ihre Geſtalt undeut¬ lich. Ich redete ſie an, und fragte wie ſie lebe? Sie antwortete mir mit halber Stim¬ me: ganz wohl. Indeß bemerkte ich, daß ein Kind hinter dem Zaune beſchäftigt war Blumen auszureiſſen, und nahm die Gele¬ genheit ſie zu fragen: wo denn ihre übrigen Kinder ſeyen? Es iſt nicht mein Kind, ſagte ſie, das wäre früh! und in dieſem Augen¬ blick ſchickte ſichs, daß ich durch die Zweige ihr Geſicht genau ſehen konnte, und ich wußte nicht, was ich zu der Erſcheinung ſa¬ gen ſollte. Es war meine Geliebte und war es nicht. Faſt jünger, faſt ſchöner als ich
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gen lag, ſah ich doch, daß ſie ſich am Zaune
beſchäftigte, der ſie nur leicht bedeckte. Ich
glaubte meine alte Geliebte zu erkennen.
Da ich an ſie kam, hielt ich ſtill, nicht ohne
Regung des Herzens. Einige hohe Zweige
wilder Roſen, die eine leiſe Luft hin und
her wehte, machten mir ihre Geſtalt undeut¬
lich. Ich redete ſie an, und fragte wie ſie
lebe? Sie antwortete mir mit halber Stim¬
me: ganz wohl. Indeß bemerkte ich, daß
ein Kind hinter dem Zaune beſchäftigt war
Blumen auszureiſſen, und nahm die Gele¬
genheit ſie zu fragen: wo denn ihre übrigen
Kinder ſeyen? Es iſt nicht mein Kind, ſagte
ſie, das wäre früh! und in dieſem Augen¬
blick ſchickte ſichs, daß ich durch die Zweige
ihr Geſicht genau ſehen konnte, und ich
wußte nicht, was ich zu der Erſcheinung ſa¬
gen ſollte. Es war meine Geliebte und war
es nicht. Faſt jünger, faſt ſchöner als ich
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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/130>, abgerufen am 16.02.2025.
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