sein ganzes vorhergehendes Leben wegzuwer¬ fen braucht.
Therese kam auf sein Zimmer, und bat um Verzeihung, daß sie ihn störe, hier in dem Wandschrank, sagte sie, steht meine ganze Bibliothek, es sind eher Bücher, die ich nicht wegwerfe, als die ich aufhebe. Ly¬ die verlangt ein geistliches Buch, es findet sich wohl auch eins und das andere darun¬ ter. Die Menschen, die das ganze Jahr weltlich sind, bilden sich ein, sie müßten zur Zeit der Noth geistlich seyn, sie sehen alles Gute und Sittliche wie eine Arzeney an, die man mit Widerwillen zu sich nimmt, wenn man sich schlecht befindet, sie sehen in einem Geistlichen, einem Sittenlehrer nur einen Arzt, den man nicht geschwind genug aus dem Hause los werden kann; ich aber ge¬ stehe gern, ich habe vom Sittlichen den Be¬ griff als von einer Diät, die eben dadurch
ſein ganzes vorhergehendes Leben wegzuwer¬ fen braucht.
Thereſe kam auf ſein Zimmer, und bat um Verzeihung, daß ſie ihn ſtöre, hier in dem Wandſchrank, ſagte ſie, ſteht meine ganze Bibliothek, es ſind eher Bücher, die ich nicht wegwerfe, als die ich aufhebe. Ly¬ die verlangt ein geiſtliches Buch, es findet ſich wohl auch eins und das andere darun¬ ter. Die Menſchen, die das ganze Jahr weltlich ſind, bilden ſich ein, ſie müßten zur Zeit der Noth geiſtlich ſeyn, ſie ſehen alles Gute und Sittliche wie eine Arzeney an, die man mit Widerwillen zu ſich nimmt, wenn man ſich ſchlecht befindet, ſie ſehen in einem Geiſtlichen, einem Sittenlehrer nur einen Arzt, den man nicht geſchwind genug aus dem Hauſe los werden kann; ich aber ge¬ ſtehe gern, ich habe vom Sittlichen den Be¬ griff als von einer Diät, die eben dadurch
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0113"n="109"/>ſein ganzes vorhergehendes Leben wegzuwer¬<lb/>
fen braucht.</p><lb/><p>Thereſe kam auf ſein Zimmer, und bat<lb/>
um Verzeihung, daß ſie ihn ſtöre, hier in<lb/>
dem Wandſchrank, ſagte ſie, ſteht meine<lb/>
ganze Bibliothek, es ſind eher Bücher, die<lb/>
ich nicht wegwerfe, als die ich aufhebe. Ly¬<lb/>
die verlangt ein geiſtliches Buch, es findet<lb/>ſich wohl auch eins und das andere darun¬<lb/>
ter. Die Menſchen, die das ganze Jahr<lb/>
weltlich ſind, bilden ſich ein, ſie müßten zur<lb/>
Zeit der Noth geiſtlich ſeyn, ſie ſehen alles<lb/>
Gute und Sittliche wie eine Arzeney an, die<lb/>
man mit Widerwillen zu ſich nimmt, wenn<lb/>
man ſich ſchlecht befindet, ſie ſehen in einem<lb/>
Geiſtlichen, einem Sittenlehrer nur einen<lb/>
Arzt, den man nicht geſchwind genug aus<lb/>
dem Hauſe los werden kann; ich aber ge¬<lb/>ſtehe gern, ich habe vom Sittlichen den Be¬<lb/>
griff als von einer Diät, die eben dadurch<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[109/0113]
ſein ganzes vorhergehendes Leben wegzuwer¬
fen braucht.
Thereſe kam auf ſein Zimmer, und bat
um Verzeihung, daß ſie ihn ſtöre, hier in
dem Wandſchrank, ſagte ſie, ſteht meine
ganze Bibliothek, es ſind eher Bücher, die
ich nicht wegwerfe, als die ich aufhebe. Ly¬
die verlangt ein geiſtliches Buch, es findet
ſich wohl auch eins und das andere darun¬
ter. Die Menſchen, die das ganze Jahr
weltlich ſind, bilden ſich ein, ſie müßten zur
Zeit der Noth geiſtlich ſeyn, ſie ſehen alles
Gute und Sittliche wie eine Arzeney an, die
man mit Widerwillen zu ſich nimmt, wenn
man ſich ſchlecht befindet, ſie ſehen in einem
Geiſtlichen, einem Sittenlehrer nur einen
Arzt, den man nicht geſchwind genug aus
dem Hauſe los werden kann; ich aber ge¬
ſtehe gern, ich habe vom Sittlichen den Be¬
griff als von einer Diät, die eben dadurch
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/113>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.