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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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Mir war es Ernst mit meiner Seligkeit. Ich
vertraute bescheiden fremdem Ansehn; ich er¬
gab mich völlig dem hallischen Bekehrungs¬
system, und mein ganzes Wesen wollte auf
keine Wege hineinpassen.

Nach diesem Lehrplan muß die Verände¬
rung des Herzens mit einem tiefen Schrecken
über die Sünde anfangen; das Herz muß
in dieser Noth bald mehr bald weniger die
verschuldete Strafe erkennen und den Vor¬
schmack der Hölle kosten, der die Lust der
Sünde verbittert. Endlich muß man eine
sehr merkliche Versicherung der Gnade füh¬
len, die aber im Fortgange sich oft versteckt
und mit Ernst wieder gesucht werden muß.

Das alles traf bey mir weder nahe noch
ferne zu. Wenn ich Gott aufrichtig suchte,
so ließ er sich finden, und hielt mir von ver¬
gangenen Dingen nichts vor. Ich sah hin¬
ten nach wohl ein, wo ich unwürdig gewesen

Mir war es Ernſt mit meiner Seligkeit. Ich
vertraute beſcheiden fremdem Anſehn; ich er¬
gab mich völlig dem halliſchen Bekehrungs¬
ſyſtem, und mein ganzes Weſen wollte auf
keine Wege hineinpaſſen.

Nach dieſem Lehrplan muß die Verände¬
rung des Herzens mit einem tiefen Schrecken
über die Sünde anfangen; das Herz muß
in dieſer Noth bald mehr bald weniger die
verſchuldete Strafe erkennen und den Vor¬
ſchmack der Hölle koſten, der die Luſt der
Sünde verbittert. Endlich muß man eine
ſehr merkliche Verſicherung der Gnade füh¬
len, die aber im Fortgange ſich oft verſteckt
und mit Ernſt wieder geſucht werden muß.

Das alles traf bey mir weder nahe noch
ferne zu. Wenn ich Gott aufrichtig ſuchte,
ſo ließ er ſich finden, und hielt mir von ver¬
gangenen Dingen nichts vor. Ich ſah hin¬
ten nach wohl ein, wo ich unwürdig geweſen

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[286/0292] Mir war es Ernſt mit meiner Seligkeit. Ich vertraute beſcheiden fremdem Anſehn; ich er¬ gab mich völlig dem halliſchen Bekehrungs¬ ſyſtem, und mein ganzes Weſen wollte auf keine Wege hineinpaſſen. Nach dieſem Lehrplan muß die Verände¬ rung des Herzens mit einem tiefen Schrecken über die Sünde anfangen; das Herz muß in dieſer Noth bald mehr bald weniger die verſchuldete Strafe erkennen und den Vor¬ ſchmack der Hölle koſten, der die Luſt der Sünde verbittert. Endlich muß man eine ſehr merkliche Verſicherung der Gnade füh¬ len, die aber im Fortgange ſich oft verſteckt und mit Ernſt wieder geſucht werden muß. Das alles traf bey mir weder nahe noch ferne zu. Wenn ich Gott aufrichtig ſuchte, ſo ließ er ſich finden, und hielt mir von ver¬ gangenen Dingen nichts vor. Ich ſah hin¬ ten nach wohl ein, wo ich unwürdig geweſen

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/292>, abgerufen am 21.05.2024.