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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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Wesens offen bliebe, und wie schmerzlich ich
empfinden mußte, daß der Streit auf diese
Weise nicht beygelegt werden könne. Denn
sobald ich mich in das Gewand der Thor¬
heit kleidete, blieb es nicht bloß bey der
Maske, sondern die Narrheit durchdrang
mich sogleich durch und durch.

Darf ich hier das Gesetz einer blos hi¬
storischen Darstellung überschreiten, und eini¬
ge Betrachtungen über dasjenige machen,
was in mir vorging? Was konnte das seyn,
das meinen Geschmack und meine Sinnes¬
art so änderte, daß ich im zwey und zwan¬
zigsten Jahre, ja früher, kein Vergnügen an
Dingen fand, die Leute von diesem Alter
unschuldig belustigen können? Warum wa¬
ren sie mir nicht unschuldig? Ich darf wohl
antworten: eben weil sie mir nicht unschul¬
dig waren, weil ich nicht wie andre meines
gleichen unbekannt mit meiner Seele war.

Weſens offen bliebe, und wie ſchmerzlich ich
empfinden mußte, daß der Streit auf dieſe
Weiſe nicht beygelegt werden könne. Denn
ſobald ich mich in das Gewand der Thor¬
heit kleidete, blieb es nicht bloß bey der
Maske, ſondern die Narrheit durchdrang
mich ſogleich durch und durch.

Darf ich hier das Geſetz einer blos hi¬
ſtoriſchen Darſtellung überſchreiten, und eini¬
ge Betrachtungen über dasjenige machen,
was in mir vorging? Was konnte das ſeyn,
das meinen Geſchmack und meine Sinnes¬
art ſo änderte, daß ich im zwey und zwan¬
zigſten Jahre, ja früher, kein Vergnügen an
Dingen fand, die Leute von dieſem Alter
unſchuldig beluſtigen können? Warum wa¬
ren ſie mir nicht unſchuldig? Ich darf wohl
antworten: eben weil ſie mir nicht unſchul¬
dig waren, weil ich nicht wie andre meines
gleichen unbekannt mit meiner Seele war.

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[260/0266] Weſens offen bliebe, und wie ſchmerzlich ich empfinden mußte, daß der Streit auf dieſe Weiſe nicht beygelegt werden könne. Denn ſobald ich mich in das Gewand der Thor¬ heit kleidete, blieb es nicht bloß bey der Maske, ſondern die Narrheit durchdrang mich ſogleich durch und durch. Darf ich hier das Geſetz einer blos hi¬ ſtoriſchen Darſtellung überſchreiten, und eini¬ ge Betrachtungen über dasjenige machen, was in mir vorging? Was konnte das ſeyn, das meinen Geſchmack und meine Sinnes¬ art ſo änderte, daß ich im zwey und zwan¬ zigſten Jahre, ja früher, kein Vergnügen an Dingen fand, die Leute von dieſem Alter unſchuldig beluſtigen können? Warum wa¬ ren ſie mir nicht unſchuldig? Ich darf wohl antworten: eben weil ſie mir nicht unſchul¬ dig waren, weil ich nicht wie andre meines gleichen unbekannt mit meiner Seele war.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/266>, abgerufen am 21.05.2024.