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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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auf, und nun fing ich erst wiede ran gewahr
zu werden, was ich alles wußte, worüber ich
gedacht, was ich empfunden hatte, und wor¬
über ich mich im Gespräche auszudrücken
verstand. Mein neuer Freund, der von je¬
her in der besten Gesellschaft gewesen war,
hatte außer dem historischen und politischen
Fache, das er ganz übersah, sehr ausgebreite¬
te literarische Kenntnisse, und ihm blieb
nichts Neues, besonders was in Frankreich
herauskam, unbekannt. Er brachte und sen¬
dete mir manch angenehmes und nützliches
Buch, doch das mußte geheimer als ein ver¬
botenes Liebesverständniß gehalten werden.
Man hatte die gelehrten Weiber lächerlich
gemacht, und man wollte auch die unterrich¬
teten nicht leiden, wahrscheinlich, weil man
für unhöflich hielt, so viel unwissende Män¬
ner beschämen zu lassen. Selbst mein Vater,
den diese neue Gelegenheit, meinen Geist aus¬

auf, und nun fing ich erſt wiede ran gewahr
zu werden, was ich alles wußte, worüber ich
gedacht, was ich empfunden hatte, und wor¬
über ich mich im Geſpräche auszudrücken
verſtand. Mein neuer Freund, der von je¬
her in der beſten Geſellſchaft geweſen war,
hatte außer dem hiſtoriſchen und politiſchen
Fache, das er ganz überſah, ſehr ausgebreite¬
te literariſche Kenntniſſe, und ihm blieb
nichts Neues, beſonders was in Frankreich
herauskam, unbekannt. Er brachte und ſen¬
dete mir manch angenehmes und nützliches
Buch, doch das mußte geheimer als ein ver¬
botenes Liebesverſtändniß gehalten werden.
Man hatte die gelehrten Weiber lächerlich
gemacht, und man wollte auch die unterrich¬
teten nicht leiden, wahrſcheinlich, weil man
für unhöflich hielt, ſo viel unwiſſende Män¬
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den dieſe neue Gelegenheit, meinen Geiſt aus¬

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[228/0234] auf, und nun fing ich erſt wiede ran gewahr zu werden, was ich alles wußte, worüber ich gedacht, was ich empfunden hatte, und wor¬ über ich mich im Geſpräche auszudrücken verſtand. Mein neuer Freund, der von je¬ her in der beſten Geſellſchaft geweſen war, hatte außer dem hiſtoriſchen und politiſchen Fache, das er ganz überſah, ſehr ausgebreite¬ te literariſche Kenntniſſe, und ihm blieb nichts Neues, beſonders was in Frankreich herauskam, unbekannt. Er brachte und ſen¬ dete mir manch angenehmes und nützliches Buch, doch das mußte geheimer als ein ver¬ botenes Liebesverſtändniß gehalten werden. Man hatte die gelehrten Weiber lächerlich gemacht, und man wollte auch die unterrich¬ teten nicht leiden, wahrſcheinlich, weil man für unhöflich hielt, ſo viel unwiſſende Män¬ ner beſchämen zu laſſen. Selbſt mein Vater, den dieſe neue Gelegenheit, meinen Geiſt aus¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/234>, abgerufen am 29.11.2024.