zu warnen, und ich nahm es ihm immer heimlich übel. Ich war keinesweges von der Wahrheit seiner Behauptung überzeugt, und vielleicht hatte ich auch damals Recht, viel¬ leicht hatte er Unrecht, die Frauen unter al¬ len Umständen für so schwach zu halten; aber er redete zugleich so zudringlich, daß mir einst bange wurde, er möchte Recht ha¬ ben, da ich denn sehr lebhaft zu ihm sagte: weil die Gefahr so groß und das menschliche Herz so schwach ist, so will ich Gott bitten, daß er mich bewahre.
Die naive Antwort schien ihn zu freuen; er lobte meinen Vorsatz; aber es war bey mir nichts weniger als ernstlich gemeynt; diesmal war es nur ein leeres Wort; denn die Empfindungen für den Unsichtbaren wa¬ ren bey mir fast ganz verloschen. Der große Schwarm, mit dem ich umgeben war, zerstreute mich und riß mich wie ein starker Strom mit
zu warnen, und ich nahm es ihm immer heimlich übel. Ich war keinesweges von der Wahrheit ſeiner Behauptung überzeugt, und vielleicht hatte ich auch damals Recht, viel¬ leicht hatte er Unrecht, die Frauen unter al¬ len Umſtänden für ſo ſchwach zu halten; aber er redete zugleich ſo zudringlich, daß mir einſt bange wurde, er möchte Recht ha¬ ben, da ich denn ſehr lebhaft zu ihm ſagte: weil die Gefahr ſo groß und das menſchliche Herz ſo ſchwach iſt, ſo will ich Gott bitten, daß er mich bewahre.
Die naive Antwort ſchien ihn zu freuen; er lobte meinen Vorſatz; aber es war bey mir nichts weniger als ernſtlich gemeynt; diesmal war es nur ein leeres Wort; denn die Empfindungen für den Unſichtbaren wa¬ ren bey mir faſt ganz verloſchen. Der große Schwarm, mit dem ich umgeben war, zerſtreute mich und riß mich wie ein ſtarker Strom mit
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0229"n="223"/>
zu warnen, und ich nahm es ihm immer<lb/>
heimlich übel. Ich war keinesweges von der<lb/>
Wahrheit ſeiner Behauptung überzeugt, und<lb/>
vielleicht hatte ich auch damals Recht, viel¬<lb/>
leicht hatte er Unrecht, die Frauen unter al¬<lb/>
len Umſtänden für ſo ſchwach zu halten;<lb/>
aber er redete zugleich ſo zudringlich, daß<lb/>
mir einſt bange wurde, er möchte Recht ha¬<lb/>
ben, da ich denn ſehr lebhaft zu ihm ſagte:<lb/>
weil die Gefahr ſo groß und das menſchliche<lb/>
Herz ſo ſchwach iſt, ſo will ich Gott bitten,<lb/>
daß er mich bewahre.</p><lb/><p>Die naive Antwort ſchien ihn zu freuen;<lb/>
er lobte meinen Vorſatz; aber es war bey<lb/>
mir nichts weniger als ernſtlich gemeynt;<lb/>
diesmal war es nur ein leeres Wort; denn<lb/>
die Empfindungen für den Unſichtbaren wa¬<lb/>
ren bey mir faſt ganz verloſchen. Der große<lb/>
Schwarm, mit dem ich umgeben war, zerſtreute<lb/>
mich und riß mich wie ein ſtarker Strom mit<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[223/0229]
zu warnen, und ich nahm es ihm immer
heimlich übel. Ich war keinesweges von der
Wahrheit ſeiner Behauptung überzeugt, und
vielleicht hatte ich auch damals Recht, viel¬
leicht hatte er Unrecht, die Frauen unter al¬
len Umſtänden für ſo ſchwach zu halten;
aber er redete zugleich ſo zudringlich, daß
mir einſt bange wurde, er möchte Recht ha¬
ben, da ich denn ſehr lebhaft zu ihm ſagte:
weil die Gefahr ſo groß und das menſchliche
Herz ſo ſchwach iſt, ſo will ich Gott bitten,
daß er mich bewahre.
Die naive Antwort ſchien ihn zu freuen;
er lobte meinen Vorſatz; aber es war bey
mir nichts weniger als ernſtlich gemeynt;
diesmal war es nur ein leeres Wort; denn
die Empfindungen für den Unſichtbaren wa¬
ren bey mir faſt ganz verloſchen. Der große
Schwarm, mit dem ich umgeben war, zerſtreute
mich und riß mich wie ein ſtarker Strom mit
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/229>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.