Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

nern, ob er sie gestern Abend zugeschlossen
hatte.

Am wunderbarsten aber erschien ihm der
Schleyer des Geistes, den er auf seinem Bette
fand. Er hatte ihn mit herauf gebracht
und wahrscheinlich selbst dahin geworfen. Es
war ein grauer Flor, an dessen Saum er
eine Schrift mit schwarzen Buchstaben ge¬
stickt sah. Er entfaltete sie und las die
Worte: Zum ersten und letztenmal!
Flieh! Jüngling, flieh! Er war be¬
troffen und wußte nicht was er sagen sollte.

In eben dem Augenblick trat Mignon
herein und brachte ihm das Frühstück. Wil¬
helm erstaunte über den Anblick des Kindes,
ja man kann sagen er erschrack. Sie schien
diese Nacht größer geworden zu seyn; sie
trat mit einem hohen edlen Anstand vor ihn
hin und sah ihm sehr ernsthaft in die Au¬
gen, so daß er den Blick nicht ertragen

W. Meisters Lehrj. 3. I

nern, ob er ſie geſtern Abend zugeſchloſſen
hatte.

Am wunderbarſten aber erſchien ihm der
Schleyer des Geiſtes, den er auf ſeinem Bette
fand. Er hatte ihn mit herauf gebracht
und wahrſcheinlich ſelbſt dahin geworfen. Es
war ein grauer Flor, an deſſen Saum er
eine Schrift mit ſchwarzen Buchſtaben ge¬
ſtickt ſah. Er entfaltete ſie und las die
Worte: Zum erſten und letztenmal!
Flieh! Jüngling, flieh! Er war be¬
troffen und wußte nicht was er ſagen ſollte.

In eben dem Augenblick trat Mignon
herein und brachte ihm das Frühſtück. Wil¬
helm erſtaunte über den Anblick des Kindes,
ja man kann ſagen er erſchrack. Sie ſchien
dieſe Nacht größer geworden zu ſeyn; ſie
trat mit einem hohen edlen Anſtand vor ihn
hin und ſah ihm ſehr ernſthaft in die Au¬
gen, ſo daß er den Blick nicht ertragen

W. Meiſters Lehrj. 3. I
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0135" n="129"/>
nern, ob er &#x017F;ie ge&#x017F;tern Abend zuge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en<lb/>
hatte.</p><lb/>
            <p>Am wunderbar&#x017F;ten aber er&#x017F;chien ihm der<lb/>
Schleyer des Gei&#x017F;tes, den er auf &#x017F;einem Bette<lb/>
fand. Er hatte ihn mit herauf gebracht<lb/>
und wahr&#x017F;cheinlich &#x017F;elb&#x017F;t dahin geworfen. Es<lb/>
war ein grauer Flor, an de&#x017F;&#x017F;en Saum er<lb/>
eine Schrift mit &#x017F;chwarzen Buch&#x017F;taben ge¬<lb/>
&#x017F;tickt &#x017F;ah. Er entfaltete &#x017F;ie und las die<lb/>
Worte: <hi rendition="#g">Zum er&#x017F;ten und letztenmal</hi>!<lb/><hi rendition="#g">Flieh</hi>! <hi rendition="#g">Jüngling</hi>, <hi rendition="#g">flieh</hi>! Er war be¬<lb/>
troffen und wußte nicht was er &#x017F;agen &#x017F;ollte.<lb/></p>
            <p>In eben dem Augenblick trat Mignon<lb/>
herein und brachte ihm das Früh&#x017F;tück. Wil¬<lb/>
helm er&#x017F;taunte über den Anblick des Kindes,<lb/>
ja man kann &#x017F;agen er er&#x017F;chrack. Sie &#x017F;chien<lb/>
die&#x017F;e Nacht größer geworden zu &#x017F;eyn; &#x017F;ie<lb/>
trat mit einem hohen edlen An&#x017F;tand vor ihn<lb/>
hin und &#x017F;ah ihm &#x017F;ehr ern&#x017F;thaft in die Au¬<lb/>
gen, &#x017F;o daß er den Blick nicht ertragen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">W. Mei&#x017F;ters Lehrj. 3. I<lb/></fw>
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[129/0135] nern, ob er ſie geſtern Abend zugeſchloſſen hatte. Am wunderbarſten aber erſchien ihm der Schleyer des Geiſtes, den er auf ſeinem Bette fand. Er hatte ihn mit herauf gebracht und wahrſcheinlich ſelbſt dahin geworfen. Es war ein grauer Flor, an deſſen Saum er eine Schrift mit ſchwarzen Buchſtaben ge¬ ſtickt ſah. Er entfaltete ſie und las die Worte: Zum erſten und letztenmal! Flieh! Jüngling, flieh! Er war be¬ troffen und wußte nicht was er ſagen ſollte. In eben dem Augenblick trat Mignon herein und brachte ihm das Frühſtück. Wil¬ helm erſtaunte über den Anblick des Kindes, ja man kann ſagen er erſchrack. Sie ſchien dieſe Nacht größer geworden zu ſeyn; ſie trat mit einem hohen edlen Anſtand vor ihn hin und ſah ihm ſehr ernſthaft in die Au¬ gen, ſo daß er den Blick nicht ertragen W. Meiſters Lehrj. 3. I

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/135
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/135>, abgerufen am 21.11.2024.