hatte eine Neigung zum gesellschaftlichen Le¬ ben, und ich läugne nicht, daß mir, als ich meine ältern Bekanntschaften aufgab, vor der Einsamkeit grauete. Nun fand ich mich hinlänglich, ja vielleicht zu sehr entschädigt. Meine Bekanntschaften wurden erst recht weitläuftig, nicht nur mit Einheimischen, de¬ ren Gesinnungen mit den meinigen überein¬ stimmten, sondern auch mit Fremden. Meine Geschichte war ruchtbar geworden, und es waren viele Menschen neugierig, das Mäd¬ chen zu sehen, die Gott mehr schätzte als ih¬ ren Bräutigam. Es war damals überhaupt eine gewisse religiöse Stimmung in Deutsch¬ land bemerkbar. In mehreren fürstlichen und gräflichen Häusern war eine Sorge für das Heil der Seele lebendig. Es fehlte nicht an Edelleuten die gleiche Aufmerksamkeit heg¬ ten, und in den geringern Ständen war durchaus diese Gesinnung verbreitet.
W. Meisters Lehrj. 3. S
hatte eine Neigung zum geſellſchaftlichen Le¬ ben, und ich läugne nicht, daß mir, als ich meine ältern Bekanntſchaften aufgab, vor der Einſamkeit grauete. Nun fand ich mich hinlänglich, ja vielleicht zu ſehr entſchädigt. Meine Bekanntſchaften wurden erſt recht weitläuftig, nicht nur mit Einheimiſchen, de¬ ren Geſinnungen mit den meinigen überein¬ ſtimmten, ſondern auch mit Fremden. Meine Geſchichte war ruchtbar geworden, und es waren viele Menſchen neugierig, das Mäd¬ chen zu ſehen, die Gott mehr ſchätzte als ih¬ ren Bräutigam. Es war damals überhaupt eine gewiſſe religiöſe Stimmung in Deutſch¬ land bemerkbar. In mehreren fürſtlichen und gräflichen Häuſern war eine Sorge für das Heil der Seele lebendig. Es fehlte nicht an Edelleuten die gleiche Aufmerkſamkeit heg¬ ten, und in den geringern Ständen war durchaus dieſe Geſinnung verbreitet.
W. Meiſters Lehrj. 3. S
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hatte eine Neigung zum geſellſchaftlichen Le¬
ben, und ich läugne nicht, daß mir, als ich
meine ältern Bekanntſchaften aufgab, vor
der Einſamkeit grauete. Nun fand ich mich
hinlänglich, ja vielleicht zu ſehr entſchädigt.
Meine Bekanntſchaften wurden erſt recht
weitläuftig, nicht nur mit Einheimiſchen, de¬
ren Geſinnungen mit den meinigen überein¬
ſtimmten, ſondern auch mit Fremden. Meine
Geſchichte war ruchtbar geworden, und es
waren viele Menſchen neugierig, das Mäd¬
chen zu ſehen, die Gott mehr ſchätzte als ih¬
ren Bräutigam. Es war damals überhaupt
eine gewiſſe religiöſe Stimmung in Deutſch¬
land bemerkbar. In mehreren fürſtlichen und
gräflichen Häuſern war eine Sorge für das
Heil der Seele lebendig. Es fehlte nicht an
Edelleuten die gleiche Aufmerkſamkeit heg¬
ten, und in den geringern Ständen war
durchaus dieſe Geſinnung verbreitet.
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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/279>, abgerufen am 27.12.2024.
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