Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

Nun hatte ich denn wirklich das gewünschte
Schäfchen gefunden, und diese Leidenschaft
hatte wie sonst eine Krankheit die Wirkung
auf mich, daß sie mich still machte und mich
von der schwärmenden Freude zurück zog.
Ich war einsam und gerührt und Gott fiel
mir wieder ein. Er blieb mein Vertrauter,
und ich weiß wohl, mit welchen Thränen ich
für den Knaben, der fortkränkelte, zu beten
anhielt.

So viel kindisches in dem Vorgang war,
so viel trug er zur Bildung meines Herzens
bey. Unserm französischen Sprachmeister mu߬
ten wir täglich, statt der sonst gewöhnlichen
Übersetzung, Briefe von unsrer eignen Erfin¬
dung schreiben. Ich brachte meine Liebesge¬
schichte unter dem Namen Phyllis und Da¬
mon zu Markte. Der Alte sah bald durch,
und, um mich treuherzig zu machen, lobte er
meine Arbeit gar sehr. Ich wurde immer

Nun hatte ich denn wirklich das gewünſchte
Schäfchen gefunden, und dieſe Leidenſchaft
hatte wie ſonſt eine Krankheit die Wirkung
auf mich, daß ſie mich ſtill machte und mich
von der ſchwärmenden Freude zurück zog.
Ich war einſam und gerührt und Gott fiel
mir wieder ein. Er blieb mein Vertrauter,
und ich weiß wohl, mit welchen Thränen ich
für den Knaben, der fortkränkelte, zu beten
anhielt.

So viel kindiſches in dem Vorgang war,
ſo viel trug er zur Bildung meines Herzens
bey. Unſerm franzöſiſchen Sprachmeiſter mu߬
ten wir täglich, ſtatt der ſonſt gewöhnlichen
Überſetzung, Briefe von unſrer eignen Erfin¬
dung ſchreiben. Ich brachte meine Liebesge¬
ſchichte unter dem Namen Phyllis und Da¬
mon zu Markte. Der Alte ſah bald durch,
und, um mich treuherzig zu machen, lobte er
meine Arbeit gar ſehr. Ich wurde immer

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0225" n="219"/>
            <p>Nun hatte ich denn wirklich das gewün&#x017F;chte<lb/>
Schäfchen gefunden, und die&#x017F;e Leiden&#x017F;chaft<lb/>
hatte wie &#x017F;on&#x017F;t eine Krankheit die Wirkung<lb/>
auf mich, daß &#x017F;ie mich &#x017F;till machte und mich<lb/>
von der &#x017F;chwärmenden Freude zurück zog.<lb/>
Ich war ein&#x017F;am und gerührt und Gott fiel<lb/>
mir wieder ein. Er blieb mein Vertrauter,<lb/>
und ich weiß wohl, mit welchen Thränen ich<lb/>
für den Knaben, der fortkränkelte, zu beten<lb/>
anhielt.</p><lb/>
            <p>So viel kindi&#x017F;ches in dem Vorgang war,<lb/>
&#x017F;o viel trug er zur Bildung meines Herzens<lb/>
bey. Un&#x017F;erm franzö&#x017F;i&#x017F;chen Sprachmei&#x017F;ter mu߬<lb/>
ten wir täglich, &#x017F;tatt der &#x017F;on&#x017F;t gewöhnlichen<lb/>
Über&#x017F;etzung, Briefe von un&#x017F;rer eignen Erfin¬<lb/>
dung &#x017F;chreiben. Ich brachte meine Liebesge¬<lb/>
&#x017F;chichte unter dem Namen Phyllis und Da¬<lb/>
mon zu Markte. Der Alte &#x017F;ah bald durch,<lb/>
und, um mich treuherzig zu machen, lobte er<lb/>
meine Arbeit gar &#x017F;ehr. Ich wurde immer<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[219/0225] Nun hatte ich denn wirklich das gewünſchte Schäfchen gefunden, und dieſe Leidenſchaft hatte wie ſonſt eine Krankheit die Wirkung auf mich, daß ſie mich ſtill machte und mich von der ſchwärmenden Freude zurück zog. Ich war einſam und gerührt und Gott fiel mir wieder ein. Er blieb mein Vertrauter, und ich weiß wohl, mit welchen Thränen ich für den Knaben, der fortkränkelte, zu beten anhielt. So viel kindiſches in dem Vorgang war, ſo viel trug er zur Bildung meines Herzens bey. Unſerm franzöſiſchen Sprachmeiſter mu߬ ten wir täglich, ſtatt der ſonſt gewöhnlichen Überſetzung, Briefe von unſrer eignen Erfin¬ dung ſchreiben. Ich brachte meine Liebesge¬ ſchichte unter dem Namen Phyllis und Da¬ mon zu Markte. Der Alte ſah bald durch, und, um mich treuherzig zu machen, lobte er meine Arbeit gar ſehr. Ich wurde immer

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/225
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/225>, abgerufen am 25.12.2024.