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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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den zu können; ich las nun mit Eifer man¬
che Bücher, die mich in den Stand setzten von
Religion zu schwatzen, aber nie fiel es mir
ein zu denken, wie es denn mit mir stehe,
ob meine Seele auch so gestaltet sey, ob sie
einem Spiegel gleiche, von dem die ewige
Sonne wieder glänzen könnte, das hatte ich
ein vor allemal schon vorausgesetzt.

Französisch lernte ich mit vieler Begierde.
Mein Sprachmeister war ein wackrer Mann.
Er war nicht ein leichtsinniger Empiriker,
nicht ein trockner Grammatiker; er hatte
Wissenschaften, er hatte die Welt gesehen.
Zugleich mit dem Sprachunterrichte sättigte
er meine Wißbegierde auf mancherley Weise.
Ich liebte ihn so sehr, daß ich seine Ankunft
immer mit Herzklopfen erwartete. Das Zeich¬
nen fiel mir nicht schwer, und ich würde es
weiter gebracht haben, wenn mein Meist[er]
Kopf und Kenntnisse gehabt hätte; er hatte
aber nur Hände und Übung.

den zu können; ich las nun mit Eifer man¬
che Bücher, die mich in den Stand ſetzten von
Religion zu ſchwatzen, aber nie fiel es mir
ein zu denken, wie es denn mit mir ſtehe,
ob meine Seele auch ſo geſtaltet ſey, ob ſie
einem Spiegel gleiche, von dem die ewige
Sonne wieder glänzen könnte, das hatte ich
ein vor allemal ſchon vorausgeſetzt.

Franzöſiſch lernte ich mit vieler Begierde.
Mein Sprachmeiſter war ein wackrer Mann.
Er war nicht ein leichtſinniger Empiriker,
nicht ein trockner Grammatiker; er hatte
Wiſſenſchaften, er hatte die Welt geſehen.
Zugleich mit dem Sprachunterrichte ſättigte
er meine Wißbegierde auf mancherley Weiſe.
Ich liebte ihn ſo ſehr, daß ich ſeine Ankunft
immer mit Herzklopfen erwartete. Das Zeich¬
nen fiel mir nicht ſchwer, und ich würde es
weiter gebracht haben, wenn mein Meiſt[er]
Kopf und Kenntniſſe gehabt hätte; er hatte
aber nur Hände und Übung.

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[215/0221] den zu können; ich las nun mit Eifer man¬ che Bücher, die mich in den Stand ſetzten von Religion zu ſchwatzen, aber nie fiel es mir ein zu denken, wie es denn mit mir ſtehe, ob meine Seele auch ſo geſtaltet ſey, ob ſie einem Spiegel gleiche, von dem die ewige Sonne wieder glänzen könnte, das hatte ich ein vor allemal ſchon vorausgeſetzt. Franzöſiſch lernte ich mit vieler Begierde. Mein Sprachmeiſter war ein wackrer Mann. Er war nicht ein leichtſinniger Empiriker, nicht ein trockner Grammatiker; er hatte Wiſſenſchaften, er hatte die Welt geſehen. Zugleich mit dem Sprachunterrichte ſättigte er meine Wißbegierde auf mancherley Weiſe. Ich liebte ihn ſo ſehr, daß ich ſeine Ankunft immer mit Herzklopfen erwartete. Das Zeich¬ nen fiel mir nicht ſchwer, und ich würde es weiter gebracht haben, wenn mein Meiſter Kopf und Kenntniſſe gehabt hätte; er hatte aber nur Hände und Übung.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/221>, abgerufen am 23.12.2024.