und konnte und wollte die Thränen nicht zu¬ rück halten, die des Alten herzliche Klage endlich auch aus seinen Augen hervorlockte. Alle Schmerzen, die seine Seele drückten, lösten sich zu gleicher Zeit auf, er überließ sich ihnen ganz, stieß die Kammerthüre auf, und stand vor dem Alten, der ein schlechtes Bette, den einzigen Hausrath dieser armseli¬ gen Wohnung, zu seinem Sitze zu nehmen genöthigt gewesen.
Was hast du mir für Empfindungen rege gemacht, guter Alter? rief er aus: Alles, was in meinem Herzen stockte, hast du los gelöst; laß dich nicht stören, sondern fahre fort, indem du deine Leiden linderst, einen Freund glücklich zu machen. Der Alte woll¬ te aufstehen und etwas reden, Wilhelm ver¬ hinderte ihn daran; denn er hatte zu Mit¬ tage bemerkt, daß der Mann ungern sprach; er setzte sich vielmehr zu ihm auf den Stroh¬ sack nieder.
und konnte und wollte die Thränen nicht zu¬ rück halten, die des Alten herzliche Klage endlich auch aus ſeinen Augen hervorlockte. Alle Schmerzen, die ſeine Seele drückten, löſten ſich zu gleicher Zeit auf, er überließ ſich ihnen ganz, ſtieß die Kammerthüre auf, und ſtand vor dem Alten, der ein ſchlechtes Bette, den einzigen Hausrath dieſer armſeli¬ gen Wohnung, zu ſeinem Sitze zu nehmen genöthigt geweſen.
Was haſt du mir für Empfindungen rege gemacht, guter Alter? rief er aus: Alles, was in meinem Herzen ſtockte, haſt du los gelöst; laß dich nicht ſtören, ſondern fahre fort, indem du deine Leiden linderſt, einen Freund glücklich zu machen. Der Alte woll¬ te aufſtehen und etwas reden, Wilhelm ver¬ hinderte ihn daran; denn er hatte zu Mit¬ tage bemerkt, daß der Mann ungern ſprach; er ſetzte ſich vielmehr zu ihm auf den Stroh¬ ſack nieder.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0355"n="347"/>
und konnte und wollte die Thränen nicht zu¬<lb/>
rück halten, die des Alten herzliche Klage<lb/>
endlich auch aus ſeinen Augen hervorlockte.<lb/>
Alle Schmerzen, die ſeine Seele drückten,<lb/>
löſten ſich zu gleicher Zeit auf, er überließ<lb/>ſich ihnen ganz, ſtieß die Kammerthüre auf,<lb/>
und ſtand vor dem Alten, der ein ſchlechtes<lb/>
Bette, den einzigen Hausrath dieſer armſeli¬<lb/>
gen Wohnung, zu ſeinem Sitze zu nehmen<lb/>
genöthigt geweſen.</p><lb/><p>Was haſt du mir für Empfindungen rege<lb/>
gemacht, guter Alter? rief er aus: Alles,<lb/>
was in meinem Herzen ſtockte, haſt du los<lb/>
gelöst; laß dich nicht ſtören, ſondern fahre<lb/>
fort, indem du deine Leiden linderſt, einen<lb/>
Freund glücklich zu machen. Der Alte woll¬<lb/>
te aufſtehen und etwas reden, Wilhelm ver¬<lb/>
hinderte ihn daran; denn er hatte zu Mit¬<lb/>
tage bemerkt, daß der Mann ungern ſprach;<lb/>
er ſetzte ſich vielmehr zu ihm auf den Stroh¬<lb/>ſack nieder.</p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[347/0355]
und konnte und wollte die Thränen nicht zu¬
rück halten, die des Alten herzliche Klage
endlich auch aus ſeinen Augen hervorlockte.
Alle Schmerzen, die ſeine Seele drückten,
löſten ſich zu gleicher Zeit auf, er überließ
ſich ihnen ganz, ſtieß die Kammerthüre auf,
und ſtand vor dem Alten, der ein ſchlechtes
Bette, den einzigen Hausrath dieſer armſeli¬
gen Wohnung, zu ſeinem Sitze zu nehmen
genöthigt geweſen.
Was haſt du mir für Empfindungen rege
gemacht, guter Alter? rief er aus: Alles,
was in meinem Herzen ſtockte, haſt du los
gelöst; laß dich nicht ſtören, ſondern fahre
fort, indem du deine Leiden linderſt, einen
Freund glücklich zu machen. Der Alte woll¬
te aufſtehen und etwas reden, Wilhelm ver¬
hinderte ihn daran; denn er hatte zu Mit¬
tage bemerkt, daß der Mann ungern ſprach;
er ſetzte ſich vielmehr zu ihm auf den Stroh¬
ſack nieder.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/355>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.