Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

nicht im mindesten regte, keine Sorge in ihm
entstand, ja daß er vielmehr diesen Betrug
für heilig hielt. Er war gewiß, daß ihn
Eltern und Verwandte in der Folge für die¬
sen Schritt preisen und segnen sollten, er er¬
kannte den Wink eines leitenden Schicksals
an diesen zusammentreffenden Umständen.

Wie lang ward ihm die Zeit bis zur
Nacht, bis zur Stunde, in der er seine Ge¬
liebte wieder sehen sollte! Er saß auf seinem
Zimmer und überdachte seinen Reiseplan.
Wie ein künstlicher Dieb oder Zauberer in
der Gefangenschaft manchmal die Füße aus
den festgeschlossenen Ketten herauszieht, um
die Überzeugung bey sich zu nähren, daß
seine Rettung möglich, ja noch näher sey als
kurzsichtige Wächter glauben.

Endlich schlug die nächtliche Stunde; er
entfernte sich aus seinem Hause, schüttelte al¬
len Druck ab, und wandelte durch die stillen

Gassen

nicht im mindeſten regte, keine Sorge in ihm
entſtand, ja daß er vielmehr dieſen Betrug
für heilig hielt. Er war gewiß, daß ihn
Eltern und Verwandte in der Folge für die¬
ſen Schritt preiſen und ſegnen ſollten, er er¬
kannte den Wink eines leitenden Schickſals
an dieſen zuſammentreffenden Umſtänden.

Wie lang ward ihm die Zeit bis zur
Nacht, bis zur Stunde, in der er ſeine Ge¬
liebte wieder ſehen ſollte! Er ſaß auf ſeinem
Zimmer und überdachte ſeinen Reiſeplan.
Wie ein künſtlicher Dieb oder Zauberer in
der Gefangenſchaft manchmal die Füße aus
den feſtgeſchloſſenen Ketten herauszieht, um
die Überzeugung bey ſich zu nähren, daß
ſeine Rettung möglich, ja noch näher ſey als
kurzſichtige Wächter glauben.

Endlich ſchlug die nächtliche Stunde; er
entfernte ſich aus ſeinem Hauſe, ſchüttelte al¬
len Druck ab, und wandelte durch die ſtillen

Gaſſen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0104" n="96"/>
nicht im minde&#x017F;ten regte, keine Sorge in ihm<lb/>
ent&#x017F;tand, ja daß er vielmehr die&#x017F;en Betrug<lb/>
für heilig hielt. Er war gewiß, daß ihn<lb/>
Eltern und Verwandte in der Folge für die¬<lb/>
&#x017F;en Schritt prei&#x017F;en und &#x017F;egnen &#x017F;ollten, er er¬<lb/>
kannte den Wink eines leitenden Schick&#x017F;als<lb/>
an die&#x017F;en zu&#x017F;ammentreffenden Um&#x017F;tänden.</p><lb/>
            <p>Wie lang ward ihm die Zeit bis zur<lb/>
Nacht, bis zur Stunde, in der er &#x017F;eine Ge¬<lb/>
liebte wieder &#x017F;ehen &#x017F;ollte! Er &#x017F;aß auf &#x017F;einem<lb/>
Zimmer und überdachte &#x017F;einen Rei&#x017F;eplan.<lb/>
Wie ein kün&#x017F;tlicher Dieb oder Zauberer in<lb/>
der Gefangen&#x017F;chaft manchmal die Füße aus<lb/>
den fe&#x017F;tge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Ketten herauszieht, um<lb/>
die Überzeugung bey &#x017F;ich zu nähren, daß<lb/>
&#x017F;eine Rettung möglich, ja noch näher &#x017F;ey als<lb/>
kurz&#x017F;ichtige Wächter glauben.</p><lb/>
            <p>Endlich &#x017F;chlug die nächtliche Stunde; er<lb/>
entfernte &#x017F;ich aus &#x017F;einem Hau&#x017F;e, &#x017F;chüttelte al¬<lb/>
len Druck ab, und wandelte durch die &#x017F;tillen<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Ga&#x017F;&#x017F;en<lb/></fw>
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[96/0104] nicht im mindeſten regte, keine Sorge in ihm entſtand, ja daß er vielmehr dieſen Betrug für heilig hielt. Er war gewiß, daß ihn Eltern und Verwandte in der Folge für die¬ ſen Schritt preiſen und ſegnen ſollten, er er¬ kannte den Wink eines leitenden Schickſals an dieſen zuſammentreffenden Umſtänden. Wie lang ward ihm die Zeit bis zur Nacht, bis zur Stunde, in der er ſeine Ge¬ liebte wieder ſehen ſollte! Er ſaß auf ſeinem Zimmer und überdachte ſeinen Reiſeplan. Wie ein künſtlicher Dieb oder Zauberer in der Gefangenſchaft manchmal die Füße aus den feſtgeſchloſſenen Ketten herauszieht, um die Überzeugung bey ſich zu nähren, daß ſeine Rettung möglich, ja noch näher ſey als kurzſichtige Wächter glauben. Endlich ſchlug die nächtliche Stunde; er entfernte ſich aus ſeinem Hauſe, ſchüttelte al¬ len Druck ab, und wandelte durch die ſtillen Gaſſen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/104
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/104>, abgerufen am 26.12.2024.