Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

gebildeten Menschen, geschweige denn einem
Liebhaber, würde ein solcher Name auf den
Lippen stocken. Der kalt und einseitig urthei¬
lenden Welt ist nicht zu verargen, wenn sie
alles was phantastisch hervortritt, für lächer¬
lich und verwerflich achtet; der denkende Ken¬
ner der Menschheit aber muß es nach seinem
Werthe zu würdigen wissen.

Für den Zustand der Liebenden an dem
schönen Ufer des Rheins war diese Verglei¬
chung, zu der sie ein Schalk genöthigt hatte,
von den anmuthigsten Folgen. Man denkt
nicht über sich, wenn man sich im Spiegel
betrachtet, aber man fühlt sich und läßt sich
gelten. So ist es auch mit jenen moralischen
Nachbildern, an denen man seine Sitten und
Neigungen, seine Gewohnheiten und Eigen¬
heiten, wie im Schattenriß erkennt und mit
brüderlicher Innigkeit zu fassen und zu umar¬
men strebt.

gebildeten Menſchen, geſchweige denn einem
Liebhaber, wuͤrde ein ſolcher Name auf den
Lippen ſtocken. Der kalt und einſeitig urthei¬
lenden Welt iſt nicht zu verargen, wenn ſie
alles was phantaſtiſch hervortritt, fuͤr laͤcher¬
lich und verwerflich achtet; der denkende Ken¬
ner der Menſchheit aber muß es nach ſeinem
Werthe zu wuͤrdigen wiſſen.

Fuͤr den Zuſtand der Liebenden an dem
ſchoͤnen Ufer des Rheins war dieſe Verglei¬
chung, zu der ſie ein Schalk genoͤthigt hatte,
von den anmuthigſten Folgen. Man denkt
nicht uͤber ſich, wenn man ſich im Spiegel
betrachtet, aber man fuͤhlt ſich und laͤßt ſich
gelten. So iſt es auch mit jenen moraliſchen
Nachbildern, an denen man ſeine Sitten und
Neigungen, ſeine Gewohnheiten und Eigen¬
heiten, wie im Schattenriß erkennt und mit
bruͤderlicher Innigkeit zu faſſen und zu umar¬
men ſtrebt.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0048" n="40"/>
gebildeten Men&#x017F;chen, ge&#x017F;chweige denn einem<lb/>
Liebhaber, wu&#x0364;rde ein &#x017F;olcher Name auf den<lb/>
Lippen &#x017F;tocken. Der kalt und ein&#x017F;eitig urthei¬<lb/>
lenden Welt i&#x017F;t nicht zu verargen, wenn &#x017F;ie<lb/>
alles was phanta&#x017F;ti&#x017F;ch hervortritt, fu&#x0364;r la&#x0364;cher¬<lb/>
lich und verwerflich achtet; der denkende Ken¬<lb/>
ner der Men&#x017F;chheit aber muß es nach &#x017F;einem<lb/>
Werthe zu wu&#x0364;rdigen wi&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
        <p>Fu&#x0364;r den Zu&#x017F;tand der Liebenden an dem<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;nen Ufer des Rheins war die&#x017F;e Verglei¬<lb/>
chung, zu der &#x017F;ie ein Schalk geno&#x0364;thigt hatte,<lb/>
von den anmuthig&#x017F;ten Folgen. Man denkt<lb/>
nicht u&#x0364;ber &#x017F;ich, wenn man &#x017F;ich im Spiegel<lb/>
betrachtet, aber man fu&#x0364;hlt &#x017F;ich und la&#x0364;ßt &#x017F;ich<lb/>
gelten. So i&#x017F;t es auch mit jenen morali&#x017F;chen<lb/>
Nachbildern, an denen man &#x017F;eine Sitten und<lb/>
Neigungen, &#x017F;eine Gewohnheiten und Eigen¬<lb/>
heiten, wie im Schattenriß erkennt und mit<lb/>
bru&#x0364;derlicher Innigkeit zu fa&#x017F;&#x017F;en und zu umar¬<lb/>
men &#x017F;trebt.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[40/0048] gebildeten Menſchen, geſchweige denn einem Liebhaber, wuͤrde ein ſolcher Name auf den Lippen ſtocken. Der kalt und einſeitig urthei¬ lenden Welt iſt nicht zu verargen, wenn ſie alles was phantaſtiſch hervortritt, fuͤr laͤcher¬ lich und verwerflich achtet; der denkende Ken¬ ner der Menſchheit aber muß es nach ſeinem Werthe zu wuͤrdigen wiſſen. Fuͤr den Zuſtand der Liebenden an dem ſchoͤnen Ufer des Rheins war dieſe Verglei¬ chung, zu der ſie ein Schalk genoͤthigt hatte, von den anmuthigſten Folgen. Man denkt nicht uͤber ſich, wenn man ſich im Spiegel betrachtet, aber man fuͤhlt ſich und laͤßt ſich gelten. So iſt es auch mit jenen moraliſchen Nachbildern, an denen man ſeine Sitten und Neigungen, ſeine Gewohnheiten und Eigen¬ heiten, wie im Schattenriß erkennt und mit bruͤderlicher Innigkeit zu faſſen und zu umar¬ men ſtrebt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/48
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/48>, abgerufen am 26.04.2024.