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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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schung entgegendrang. Was mich nämlich von
der Brüdergemeine so wie von andern wer¬
then Christenseelen absonderte, war dasselbige,
worüber die Kirche schon mehr als einmal in
Spaltung gerathen war. Ein Theil behaup¬
tete, daß die menschliche Natur durch den
Sündenfall dergestalt verdorben sey, daß auch
bis in ihren innersten Kern nicht das mindeste
Gute an ihr zu finden, deshalb der Mensch
auf seine eignen Kräfte durchaus Verzicht zu
thun, und alles von der Gnade und ihrer
Einwirkung zu erwarten habe. Der andere
Theil gab zwar die erblichen Mängel der
Menschen sehr gern zu, wollte aber der Na¬
tur inwendig noch einen gewissen Keim zuge¬
stehn, welcher, durch göttliche Gnade belebt,
zu einem frohen Baume geistiger Glückselig¬
keit emporwachsen könne. Von dieser letztern
Ueberzeugung war ich auf's innigste durchdrun¬
gen, ohne es selbst zu wissen, obwohl ich
mich mit Mund und Feder zu dem Gegenthei¬
le bekannt hatte; aber ich dämmerte so hin,

III. 30

ſchung entgegendrang. Was mich naͤmlich von
der Bruͤdergemeine ſo wie von andern wer¬
then Chriſtenſeelen abſonderte, war daſſelbige,
woruͤber die Kirche ſchon mehr als einmal in
Spaltung gerathen war. Ein Theil behaup¬
tete, daß die menſchliche Natur durch den
Suͤndenfall dergeſtalt verdorben ſey, daß auch
bis in ihren innerſten Kern nicht das mindeſte
Gute an ihr zu finden, deshalb der Menſch
auf ſeine eignen Kraͤfte durchaus Verzicht zu
thun, und alles von der Gnade und ihrer
Einwirkung zu erwarten habe. Der andere
Theil gab zwar die erblichen Maͤngel der
Menſchen ſehr gern zu, wollte aber der Na¬
tur inwendig noch einen gewiſſen Keim zuge¬
ſtehn, welcher, durch goͤttliche Gnade belebt,
zu einem frohen Baume geiſtiger Gluͤckſelig¬
keit emporwachſen koͤnne. Von dieſer letztern
Ueberzeugung war ich auf's innigſte durchdrun¬
gen, ohne es ſelbſt zu wiſſen, obwohl ich
mich mit Mund und Feder zu dem Gegenthei¬
le bekannt hatte; aber ich daͤmmerte ſo hin,

III. 30
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[465/0473] ſchung entgegendrang. Was mich naͤmlich von der Bruͤdergemeine ſo wie von andern wer¬ then Chriſtenſeelen abſonderte, war daſſelbige, woruͤber die Kirche ſchon mehr als einmal in Spaltung gerathen war. Ein Theil behaup¬ tete, daß die menſchliche Natur durch den Suͤndenfall dergeſtalt verdorben ſey, daß auch bis in ihren innerſten Kern nicht das mindeſte Gute an ihr zu finden, deshalb der Menſch auf ſeine eignen Kraͤfte durchaus Verzicht zu thun, und alles von der Gnade und ihrer Einwirkung zu erwarten habe. Der andere Theil gab zwar die erblichen Maͤngel der Menſchen ſehr gern zu, wollte aber der Na¬ tur inwendig noch einen gewiſſen Keim zuge¬ ſtehn, welcher, durch goͤttliche Gnade belebt, zu einem frohen Baume geiſtiger Gluͤckſelig¬ keit emporwachſen koͤnne. Von dieſer letztern Ueberzeugung war ich auf's innigſte durchdrun¬ gen, ohne es ſelbſt zu wiſſen, obwohl ich mich mit Mund und Feder zu dem Gegenthei¬ le bekannt hatte; aber ich daͤmmerte ſo hin, III. 30

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 465. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/473>, abgerufen am 23.11.2024.