Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

haupteten, eins sey so unzuverlässig als das
andere. Daher beliebte es mir, mich zu
Gunsten beyder zu erklären, ohne jedoch den
Beyfall meiner Freunde gewinnen zu können.
Beym Glauben, sagte ich, komme alles da¬
rauf an, daß man glaube; was man glau¬
be, sey völlig gleichgültig. Der Glaube sey
ein großes Gefühl von Sicherheit für die
Gegenwart und Zukunft, und diese Sicher¬
heit entspringe aus dem Zutrauen auf ein
übergroßes, übermächtiges und unerforschli¬
ches Wesen. Auf die Unerschütterlichkeit die¬
ses Zutrauens komme alles an; wie wir uns
aber dieses Wesen denken, dieß hänge von
unsern übrigen Fähigkeiten, ja von den Um¬
ständen ab, und sey ganz gleichgültig. Der
Glaube sey ein heiliges Gefäß, in welches
ein Jeder sein Gefühl, seinen Verstand, sei¬
ne Einbildungskraft, so gut als er vermöge,
zu opfern bereit stehe. Mit dem Wissen sey
es gerade das Gegentheil; es komme gar
nicht darauf an, daß man wisse, sondern

haupteten, eins ſey ſo unzuverlaͤſſig als das
andere. Daher beliebte es mir, mich zu
Gunſten beyder zu erklaͤren, ohne jedoch den
Beyfall meiner Freunde gewinnen zu koͤnnen.
Beym Glauben, ſagte ich, komme alles da¬
rauf an, daß man glaube; was man glau¬
be, ſey voͤllig gleichguͤltig. Der Glaube ſey
ein großes Gefuͤhl von Sicherheit fuͤr die
Gegenwart und Zukunft, und dieſe Sicher¬
heit entſpringe aus dem Zutrauen auf ein
uͤbergroßes, uͤbermaͤchtiges und unerforſchli¬
ches Weſen. Auf die Unerſchuͤtterlichkeit die¬
ſes Zutrauens komme alles an; wie wir uns
aber dieſes Weſen denken, dieß haͤnge von
unſern uͤbrigen Faͤhigkeiten, ja von den Um¬
ſtaͤnden ab, und ſey ganz gleichguͤltig. Der
Glaube ſey ein heiliges Gefaͤß, in welches
ein Jeder ſein Gefuͤhl, ſeinen Verſtand, ſei¬
ne Einbildungskraft, ſo gut als er vermoͤge,
zu opfern bereit ſtehe. Mit dem Wiſſen ſey
es gerade das Gegentheil; es komme gar
nicht darauf an, daß man wiſſe, ſondern

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0420" n="412"/>
haupteten, eins &#x017F;ey &#x017F;o unzuverla&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig als das<lb/>
andere. Daher beliebte es mir, mich zu<lb/>
Gun&#x017F;ten beyder zu erkla&#x0364;ren, ohne jedoch den<lb/>
Beyfall meiner Freunde gewinnen zu ko&#x0364;nnen.<lb/>
Beym Glauben, &#x017F;agte ich, komme alles da¬<lb/>
rauf an, <hi rendition="#g">daß</hi> man glaube; <hi rendition="#g">was</hi> man glau¬<lb/>
be, &#x017F;ey vo&#x0364;llig gleichgu&#x0364;ltig. Der Glaube &#x017F;ey<lb/>
ein großes Gefu&#x0364;hl von Sicherheit fu&#x0364;r die<lb/>
Gegenwart und Zukunft, und die&#x017F;e Sicher¬<lb/>
heit ent&#x017F;pringe aus dem Zutrauen auf ein<lb/>
u&#x0364;bergroßes, u&#x0364;berma&#x0364;chtiges und unerfor&#x017F;chli¬<lb/>
ches We&#x017F;en. Auf die Uner&#x017F;chu&#x0364;tterlichkeit die¬<lb/>
&#x017F;es Zutrauens komme alles an; wie wir uns<lb/>
aber die&#x017F;es We&#x017F;en denken, dieß ha&#x0364;nge von<lb/>
un&#x017F;ern u&#x0364;brigen Fa&#x0364;higkeiten, ja von den Um¬<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;nden ab, und &#x017F;ey ganz gleichgu&#x0364;ltig. Der<lb/>
Glaube &#x017F;ey ein heiliges Gefa&#x0364;ß, in welches<lb/>
ein Jeder &#x017F;ein Gefu&#x0364;hl, &#x017F;einen Ver&#x017F;tand, &#x017F;ei¬<lb/>
ne Einbildungskraft, &#x017F;o gut als er vermo&#x0364;ge,<lb/>
zu opfern bereit &#x017F;tehe. Mit dem Wi&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ey<lb/>
es gerade das Gegentheil; es komme gar<lb/>
nicht darauf an, <hi rendition="#g">daß</hi> man wi&#x017F;&#x017F;e, &#x017F;ondern<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[412/0420] haupteten, eins ſey ſo unzuverlaͤſſig als das andere. Daher beliebte es mir, mich zu Gunſten beyder zu erklaͤren, ohne jedoch den Beyfall meiner Freunde gewinnen zu koͤnnen. Beym Glauben, ſagte ich, komme alles da¬ rauf an, daß man glaube; was man glau¬ be, ſey voͤllig gleichguͤltig. Der Glaube ſey ein großes Gefuͤhl von Sicherheit fuͤr die Gegenwart und Zukunft, und dieſe Sicher¬ heit entſpringe aus dem Zutrauen auf ein uͤbergroßes, uͤbermaͤchtiges und unerforſchli¬ ches Weſen. Auf die Unerſchuͤtterlichkeit die¬ ſes Zutrauens komme alles an; wie wir uns aber dieſes Weſen denken, dieß haͤnge von unſern uͤbrigen Faͤhigkeiten, ja von den Um¬ ſtaͤnden ab, und ſey ganz gleichguͤltig. Der Glaube ſey ein heiliges Gefaͤß, in welches ein Jeder ſein Gefuͤhl, ſeinen Verſtand, ſei¬ ne Einbildungskraft, ſo gut als er vermoͤge, zu opfern bereit ſtehe. Mit dem Wiſſen ſey es gerade das Gegentheil; es komme gar nicht darauf an, daß man wiſſe, ſondern

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/420
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/420>, abgerufen am 13.05.2024.