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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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Ausbildung hinzuneigen, die man eigentlich
gelehrt nennt. Denn auch er, um so viel
früher geboren als wir, ward von dem Frey¬
heits- und Naturgeist der Zeit ergriffen, der
Jedem sehr schmeichlerisch in die Ohren raun¬
te: man habe, ohne viele äußere Hülfsmittel,
Stoff und Gehalt genug in sich selbst, alles
komme nur darauf an, daß man ihn gehörig
entfalte. Die Pflicht des Geistlichen, sittlich
im täglichen Sinne, religiös im höheren, auf
die Menschen zu wirken, traf mit seiner Denk¬
weise vollkommen überein. Redliche und from¬
me Gesinnungen, wie er sie fühlte, den Men¬
schen mitzutheilen, sie in ihnen zu erregen,
war des Jünglings entschiedenster Trieb, und
seine liebste Beschäftigung, wie auf sich selbst,
so auf andere zu merken. Jenes ward ihm
durch ein inneres Zartgefühl, dieses durch ei¬
nen scharfen Blick auf das Aeußere erleich¬
tert, ja aufgedrungen. Zur Beschaulichkeit
war er jedoch nicht geboren, zur Darstellung
im eigentlichen Sinne hatte er keine Gabe:

Ausbildung hinzuneigen, die man eigentlich
gelehrt nennt. Denn auch er, um ſo viel
fruͤher geboren als wir, ward von dem Frey¬
heits- und Naturgeiſt der Zeit ergriffen, der
Jedem ſehr ſchmeichleriſch in die Ohren raun¬
te: man habe, ohne viele aͤußere Huͤlfsmittel,
Stoff und Gehalt genug in ſich ſelbſt, alles
komme nur darauf an, daß man ihn gehoͤrig
entfalte. Die Pflicht des Geiſtlichen, ſittlich
im taͤglichen Sinne, religioͤs im hoͤheren, auf
die Menſchen zu wirken, traf mit ſeiner Denk¬
weiſe vollkommen uͤberein. Redliche und from¬
me Geſinnungen, wie er ſie fuͤhlte, den Men¬
ſchen mitzutheilen, ſie in ihnen zu erregen,
war des Juͤnglings entſchiedenſter Trieb, und
ſeine liebſte Beſchaͤftigung, wie auf ſich ſelbſt,
ſo auf andere zu merken. Jenes ward ihm
durch ein inneres Zartgefuͤhl, dieſes durch ei¬
nen ſcharfen Blick auf das Aeußere erleich¬
tert, ja aufgedrungen. Zur Beſchaulichkeit
war er jedoch nicht geboren, zur Darſtellung
im eigentlichen Sinne hatte er keine Gabe:

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[397/0405] Ausbildung hinzuneigen, die man eigentlich gelehrt nennt. Denn auch er, um ſo viel fruͤher geboren als wir, ward von dem Frey¬ heits- und Naturgeiſt der Zeit ergriffen, der Jedem ſehr ſchmeichleriſch in die Ohren raun¬ te: man habe, ohne viele aͤußere Huͤlfsmittel, Stoff und Gehalt genug in ſich ſelbſt, alles komme nur darauf an, daß man ihn gehoͤrig entfalte. Die Pflicht des Geiſtlichen, ſittlich im taͤglichen Sinne, religioͤs im hoͤheren, auf die Menſchen zu wirken, traf mit ſeiner Denk¬ weiſe vollkommen uͤberein. Redliche und from¬ me Geſinnungen, wie er ſie fuͤhlte, den Men¬ ſchen mitzutheilen, ſie in ihnen zu erregen, war des Juͤnglings entſchiedenſter Trieb, und ſeine liebſte Beſchaͤftigung, wie auf ſich ſelbſt, ſo auf andere zu merken. Jenes ward ihm durch ein inneres Zartgefuͤhl, dieſes durch ei¬ nen ſcharfen Blick auf das Aeußere erleich¬ tert, ja aufgedrungen. Zur Beſchaulichkeit war er jedoch nicht geboren, zur Darſtellung im eigentlichen Sinne hatte er keine Gabe:

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/405>, abgerufen am 27.11.2024.