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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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Ich hatte kaum einige Stunden sehr tief
geschlafen, als ein erhitztes und in Aufruhr
gebrachtes Blut mich aufweckte. In solchen
Stunden und Lagen ist es, wo die Sorge,
die Reue den wehrlos hingestreckten Men¬
schen zu überfallen pflegen. Meine Einbil¬
dungskraft stellte mir zugleich die lebhaftesten
Bilder dar; ich sehe Lucinden, wie sie, nach
dem heftigen Kusse, leidenschaftlich von mir zu¬
rücktritt, mit glühender Wange, mit funkeln¬
den Augen jene Verwünschung ausspricht, wo¬
durch nur ihre Schwester bedroht werden soll,
und wodurch sie unwissend fremde Schuldlose
bedroht. Ich sehe Friedriken gegen ihr über¬
stehn, erstarrt vor dem Anblick, bleich und die
Folgen jener Verwünschung fühlend, von der sie
nichts weiß. Ich finde mich in der Mitte, so
wenig im Stande, die geistigen Wirkungen
jenes Abenteuers abzulehnen als jenen Unglück
weissagenden Kuß zu vermeiden. Die zarte
Gesundheit Friedrikens schien den gedrohten
Unfall zu beschleunigen, und nun kam mir ihre

Ich hatte kaum einige Stunden ſehr tief
geſchlafen, als ein erhitztes und in Aufruhr
gebrachtes Blut mich aufweckte. In ſolchen
Stunden und Lagen iſt es, wo die Sorge,
die Reue den wehrlos hingeſtreckten Men¬
ſchen zu uͤberfallen pflegen. Meine Einbil¬
dungskraft ſtellte mir zugleich die lebhafteſten
Bilder dar; ich ſehe Lucinden, wie ſie, nach
dem heftigen Kuſſe, leidenſchaftlich von mir zu¬
ruͤcktritt, mit gluͤhender Wange, mit funkeln¬
den Augen jene Verwuͤnſchung ausſpricht, wo¬
durch nur ihre Schweſter bedroht werden ſoll,
und wodurch ſie unwiſſend fremde Schuldloſe
bedroht. Ich ſehe Friedriken gegen ihr uͤber¬
ſtehn, erſtarrt vor dem Anblick, bleich und die
Folgen jener Verwuͤnſchung fuͤhlend, von der ſie
nichts weiß. Ich finde mich in der Mitte, ſo
wenig im Stande, die geiſtigen Wirkungen
jenes Abenteuers abzulehnen als jenen Ungluͤck
weiſſagenden Kuß zu vermeiden. Die zarte
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[31/0039] Ich hatte kaum einige Stunden ſehr tief geſchlafen, als ein erhitztes und in Aufruhr gebrachtes Blut mich aufweckte. In ſolchen Stunden und Lagen iſt es, wo die Sorge, die Reue den wehrlos hingeſtreckten Men¬ ſchen zu uͤberfallen pflegen. Meine Einbil¬ dungskraft ſtellte mir zugleich die lebhafteſten Bilder dar; ich ſehe Lucinden, wie ſie, nach dem heftigen Kuſſe, leidenſchaftlich von mir zu¬ ruͤcktritt, mit gluͤhender Wange, mit funkeln¬ den Augen jene Verwuͤnſchung ausſpricht, wo¬ durch nur ihre Schweſter bedroht werden ſoll, und wodurch ſie unwiſſend fremde Schuldloſe bedroht. Ich ſehe Friedriken gegen ihr uͤber¬ ſtehn, erſtarrt vor dem Anblick, bleich und die Folgen jener Verwuͤnſchung fuͤhlend, von der ſie nichts weiß. Ich finde mich in der Mitte, ſo wenig im Stande, die geiſtigen Wirkungen jenes Abenteuers abzulehnen als jenen Ungluͤck weiſſagenden Kuß zu vermeiden. Die zarte Geſundheit Friedrikens ſchien den gedrohten Unfall zu beſchleunigen, und nun kam mir ihre

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/39>, abgerufen am 28.03.2024.