Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

kenntniß entspringender Dünkel verführte zu
den seltsamsten Angewohnheiten und Unarten.
Zu einem solchen Abarbeiten in der Selbstbe¬
obachtung berechtigte jedoch die aufwachende
empirische Psychologie, die nicht gerade alles
was uns innerlich beunruhigt, für bös und
verwerflich erklären wollte, aber doch auch
nicht alles billigen konnte; und so war ein
ewiger nie beyzulegender Streit erregt. Die¬
sen zu führen und zu unterhalten übertraf
nun Lenz alle übrigen Un- oder Halbbeschäf¬
tigten, welche ihr Inneres untergruben, und
so litt er im Allgemeinen von der Zeitgesin¬
nung, welche durch die Schilderung Werther's
abgeschlossen seyn sollte; aber ein individueller
Zuschnitt unterschied ihn von allen übrigen,
die man durchaus für offene redliche Seelen
anerkennen mußte. Er hatte nämlich einen
entschiedenen Hang zur Intrigue, und zwar
zur Intrigue an sich, ohne daß er eigentliche
Zwecke, verständige, selbstische, erreichbare
Zwecke dabey gehabt hätte; vielmehr pflegte

kenntniß entſpringender Duͤnkel verfuͤhrte zu
den ſeltſamſten Angewohnheiten und Unarten.
Zu einem ſolchen Abarbeiten in der Selbſtbe¬
obachtung berechtigte jedoch die aufwachende
empiriſche Pſychologie, die nicht gerade alles
was uns innerlich beunruhigt, fuͤr boͤs und
verwerflich erklaͤren wollte, aber doch auch
nicht alles billigen konnte; und ſo war ein
ewiger nie beyzulegender Streit erregt. Die¬
ſen zu fuͤhren und zu unterhalten uͤbertraf
nun Lenz alle uͤbrigen Un- oder Halbbeſchaͤf¬
tigten, welche ihr Inneres untergruben, und
ſo litt er im Allgemeinen von der Zeitgeſin¬
nung, welche durch die Schilderung Werther's
abgeſchloſſen ſeyn ſollte; aber ein individueller
Zuſchnitt unterſchied ihn von allen uͤbrigen,
die man durchaus fuͤr offene redliche Seelen
anerkennen mußte. Er hatte naͤmlich einen
entſchiedenen Hang zur Intrigue, und zwar
zur Intrigue an ſich, ohne daß er eigentliche
Zwecke, verſtaͤndige, ſelbſtiſche, erreichbare
Zwecke dabey gehabt haͤtte; vielmehr pflegte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0383" n="375"/>
kenntniß ent&#x017F;pringender Du&#x0364;nkel verfu&#x0364;hrte zu<lb/>
den &#x017F;elt&#x017F;am&#x017F;ten Angewohnheiten und Unarten.<lb/>
Zu einem &#x017F;olchen Abarbeiten in der Selb&#x017F;tbe¬<lb/>
obachtung berechtigte jedoch die aufwachende<lb/>
empiri&#x017F;che P&#x017F;ychologie, die nicht gerade alles<lb/>
was uns innerlich beunruhigt, fu&#x0364;r bo&#x0364;s und<lb/>
verwerflich erkla&#x0364;ren wollte, aber doch auch<lb/>
nicht alles billigen konnte; und &#x017F;o war ein<lb/>
ewiger nie beyzulegender Streit erregt. Die¬<lb/>
&#x017F;en zu fu&#x0364;hren und zu unterhalten u&#x0364;bertraf<lb/>
nun Lenz alle u&#x0364;brigen Un- oder Halbbe&#x017F;cha&#x0364;<lb/>
tigten, welche ihr Inneres untergruben, und<lb/>
&#x017F;o litt er im Allgemeinen von der Zeitge&#x017F;in¬<lb/>
nung, welche durch die Schilderung Werther's<lb/>
abge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en &#x017F;eyn &#x017F;ollte; aber ein individueller<lb/>
Zu&#x017F;chnitt unter&#x017F;chied ihn von allen u&#x0364;brigen,<lb/>
die man durchaus fu&#x0364;r offene redliche Seelen<lb/>
anerkennen mußte. Er hatte na&#x0364;mlich einen<lb/>
ent&#x017F;chiedenen Hang zur Intrigue, und zwar<lb/>
zur Intrigue an &#x017F;ich, ohne daß er eigentliche<lb/>
Zwecke, ver&#x017F;ta&#x0364;ndige, &#x017F;elb&#x017F;ti&#x017F;che, erreichbare<lb/>
Zwecke dabey gehabt ha&#x0364;tte; vielmehr pflegte<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[375/0383] kenntniß entſpringender Duͤnkel verfuͤhrte zu den ſeltſamſten Angewohnheiten und Unarten. Zu einem ſolchen Abarbeiten in der Selbſtbe¬ obachtung berechtigte jedoch die aufwachende empiriſche Pſychologie, die nicht gerade alles was uns innerlich beunruhigt, fuͤr boͤs und verwerflich erklaͤren wollte, aber doch auch nicht alles billigen konnte; und ſo war ein ewiger nie beyzulegender Streit erregt. Die¬ ſen zu fuͤhren und zu unterhalten uͤbertraf nun Lenz alle uͤbrigen Un- oder Halbbeſchaͤf¬ tigten, welche ihr Inneres untergruben, und ſo litt er im Allgemeinen von der Zeitgeſin¬ nung, welche durch die Schilderung Werther's abgeſchloſſen ſeyn ſollte; aber ein individueller Zuſchnitt unterſchied ihn von allen uͤbrigen, die man durchaus fuͤr offene redliche Seelen anerkennen mußte. Er hatte naͤmlich einen entſchiedenen Hang zur Intrigue, und zwar zur Intrigue an ſich, ohne daß er eigentliche Zwecke, verſtaͤndige, ſelbſtiſche, erreichbare Zwecke dabey gehabt haͤtte; vielmehr pflegte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/383
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/383>, abgerufen am 12.05.2024.