Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

half sich damit über die Unbilden und Lange¬
weile der Tage nothdürftig genug hin. Die¬
se Gesinnung war so allgemein, daß eben
Werther deswegen die große Wirkung that,
weil er überall anschlug und das Innere ei¬
nes kranken jugendlichen Wahns öffentlich und
faßlich darstellte. Wie genau die Engländer
mit diesem Jammer bekannt waren, beweisen
die wenigen bedeutenden, vor dem Erscheinen
Werthers geschriebenen Zeilen:

To griefs congenial prone,
More wounds than nature gave he knew,
While misery's form his fancy drew
In dark ideal hues and horrors not its own.

Der Selbstmord ist ein Ereigniß der mensch¬
lichen Natur, welches, mag auch darüber schon
so viel gesprochen und gehandelt seyn als da
will, doch einen jeden Menschen zur Theil¬
nahme fordert, in jeder Zeitepoche wieder ein¬
mal verhandelt werden muß. Montesquieu
ertheilt seinen Helden und großen Männern

half ſich damit uͤber die Unbilden und Lange¬
weile der Tage nothduͤrftig genug hin. Die¬
ſe Geſinnung war ſo allgemein, daß eben
Werther deswegen die große Wirkung that,
weil er uͤberall anſchlug und das Innere ei¬
nes kranken jugendlichen Wahns oͤffentlich und
faßlich darſtellte. Wie genau die Englaͤnder
mit dieſem Jammer bekannt waren, beweiſen
die wenigen bedeutenden, vor dem Erſcheinen
Werthers geſchriebenen Zeilen:

To griefs congenial prone,
More wounds than nature gave he knew,
While misery's form his fancy drew
In dark ideal hues and horrors not its own.

Der Selbſtmord iſt ein Ereigniß der menſch¬
lichen Natur, welches, mag auch daruͤber ſchon
ſo viel geſprochen und gehandelt ſeyn als da
will, doch einen jeden Menſchen zur Theil¬
nahme fordert, in jeder Zeitepoche wieder ein¬
mal verhandelt werden muß. Montesquieu
ertheilt ſeinen Helden und großen Maͤnnern

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0341" n="333"/>
half &#x017F;ich damit u&#x0364;ber die Unbilden und Lange¬<lb/>
weile der Tage nothdu&#x0364;rftig genug hin. Die¬<lb/>
&#x017F;e Ge&#x017F;innung war &#x017F;o allgemein, daß eben<lb/>
Werther deswegen die große Wirkung that,<lb/>
weil er u&#x0364;berall an&#x017F;chlug und das Innere ei¬<lb/>
nes kranken jugendlichen Wahns o&#x0364;ffentlich und<lb/>
faßlich dar&#x017F;tellte. Wie genau die Engla&#x0364;nder<lb/>
mit die&#x017F;em Jammer bekannt waren, bewei&#x017F;en<lb/>
die wenigen bedeutenden, vor dem Er&#x017F;cheinen<lb/>
Werthers ge&#x017F;chriebenen Zeilen:</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l> <hi rendition="#aq">To griefs congenial prone,</hi> </l><lb/>
          <l> <hi rendition="#aq">More wounds than nature gave he knew,</hi> </l><lb/>
          <l> <hi rendition="#aq">While misery's form his fancy drew</hi> </l><lb/>
          <l> <hi rendition="#aq">In dark ideal hues and horrors not its own.</hi> </l><lb/>
        </lg>
        <p>Der Selb&#x017F;tmord i&#x017F;t ein Ereigniß der men&#x017F;ch¬<lb/>
lichen Natur, welches, mag auch daru&#x0364;ber &#x017F;chon<lb/>
&#x017F;o viel ge&#x017F;prochen und gehandelt &#x017F;eyn als da<lb/>
will, doch einen jeden Men&#x017F;chen zur Theil¬<lb/>
nahme fordert, in jeder Zeitepoche wieder ein¬<lb/>
mal verhandelt werden muß. Montesquieu<lb/>
ertheilt &#x017F;einen Helden und großen Ma&#x0364;nnern<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[333/0341] half ſich damit uͤber die Unbilden und Lange¬ weile der Tage nothduͤrftig genug hin. Die¬ ſe Geſinnung war ſo allgemein, daß eben Werther deswegen die große Wirkung that, weil er uͤberall anſchlug und das Innere ei¬ nes kranken jugendlichen Wahns oͤffentlich und faßlich darſtellte. Wie genau die Englaͤnder mit dieſem Jammer bekannt waren, beweiſen die wenigen bedeutenden, vor dem Erſcheinen Werthers geſchriebenen Zeilen: To griefs congenial prone, More wounds than nature gave he knew, While misery's form his fancy drew In dark ideal hues and horrors not its own. Der Selbſtmord iſt ein Ereigniß der menſch¬ lichen Natur, welches, mag auch daruͤber ſchon ſo viel geſprochen und gehandelt ſeyn als da will, doch einen jeden Menſchen zur Theil¬ nahme fordert, in jeder Zeitepoche wieder ein¬ mal verhandelt werden muß. Montesquieu ertheilt ſeinen Helden und großen Maͤnnern

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/341
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/341>, abgerufen am 19.05.2024.