Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

len wir dem Arzt, diese dem Moralisten zu
erforschen überlassen, und bey einer so oft
durchgearbeiteten Materie, nur den Haupt¬
punct beachten, wo sich jene Erscheinung am
deutlichsten ausspricht. Alles Behagen am
Leben ist auf eine regelmäßige Wiederkehr der
äußeren Dinge gegründet. Der Wechsel von
Tag und Nacht, der Jahreszeiten, der Blü¬
ten und Früchte, und was uns sonst von
Epoche zu Epoche entgegentritt, damit wir es
genießen können und sollen, diese sind die ei¬
gentlichen Triebfedern des irdischen Lebens.
Je offener wir für diese Genüsse sind, desto
glücklicher fühlen wir uns; wälzt sich aber
die Verschiedenheit dieser Erscheinungen vor
uns auf und nieder, ohne daß wir daran
Theil nehmen, sind wir gegen so holde An¬
erbietungen unempfänglich: dann tritt das
größte Uebel, die schwerste Krankheit ein,
man betrachtet das Leben als eine ekelhafte
Last. Von einem Engländer wird erzählt,
er habe sich aufgehangen, um nicht mehr

III. 21

len wir dem Arzt, dieſe dem Moraliſten zu
erforſchen uͤberlaſſen, und bey einer ſo oft
durchgearbeiteten Materie, nur den Haupt¬
punct beachten, wo ſich jene Erſcheinung am
deutlichſten ausſpricht. Alles Behagen am
Leben iſt auf eine regelmaͤßige Wiederkehr der
aͤußeren Dinge gegruͤndet. Der Wechſel von
Tag und Nacht, der Jahreszeiten, der Bluͤ¬
ten und Fruͤchte, und was uns ſonſt von
Epoche zu Epoche entgegentritt, damit wir es
genießen koͤnnen und ſollen, dieſe ſind die ei¬
gentlichen Triebfedern des irdiſchen Lebens.
Je offener wir fuͤr dieſe Genuͤſſe ſind, deſto
gluͤcklicher fuͤhlen wir uns; waͤlzt ſich aber
die Verſchiedenheit dieſer Erſcheinungen vor
uns auf und nieder, ohne daß wir daran
Theil nehmen, ſind wir gegen ſo holde An¬
erbietungen unempfaͤnglich: dann tritt das
groͤßte Uebel, die ſchwerſte Krankheit ein,
man betrachtet das Leben als eine ekelhafte
Laſt. Von einem Englaͤnder wird erzaͤhlt,
er habe ſich aufgehangen, um nicht mehr

III. 21
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0329" n="321"/>
len wir dem Arzt, die&#x017F;e dem Morali&#x017F;ten zu<lb/>
erfor&#x017F;chen u&#x0364;berla&#x017F;&#x017F;en, und bey einer &#x017F;o oft<lb/>
durchgearbeiteten Materie, nur den Haupt¬<lb/>
punct beachten, wo &#x017F;ich jene Er&#x017F;cheinung am<lb/>
deutlich&#x017F;ten aus&#x017F;pricht. Alles Behagen am<lb/>
Leben i&#x017F;t auf eine regelma&#x0364;ßige Wiederkehr der<lb/>
a&#x0364;ußeren Dinge gegru&#x0364;ndet. Der Wech&#x017F;el von<lb/>
Tag und Nacht, der Jahreszeiten, der Blu&#x0364;¬<lb/>
ten und Fru&#x0364;chte, und was uns &#x017F;on&#x017F;t von<lb/>
Epoche zu Epoche entgegentritt, damit wir es<lb/>
genießen ko&#x0364;nnen und &#x017F;ollen, die&#x017F;e &#x017F;ind die ei¬<lb/>
gentlichen Triebfedern des irdi&#x017F;chen Lebens.<lb/>
Je offener wir fu&#x0364;r die&#x017F;e Genu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e &#x017F;ind, de&#x017F;to<lb/>
glu&#x0364;cklicher fu&#x0364;hlen wir uns; wa&#x0364;lzt &#x017F;ich aber<lb/>
die Ver&#x017F;chiedenheit die&#x017F;er Er&#x017F;cheinungen vor<lb/>
uns auf und nieder, ohne daß wir daran<lb/>
Theil nehmen, &#x017F;ind wir gegen &#x017F;o holde An¬<lb/>
erbietungen unempfa&#x0364;nglich: dann tritt das<lb/>
gro&#x0364;ßte Uebel, die &#x017F;chwer&#x017F;te Krankheit ein,<lb/>
man betrachtet das Leben als eine ekelhafte<lb/>
La&#x017F;t. Von einem Engla&#x0364;nder wird erza&#x0364;hlt,<lb/>
er habe &#x017F;ich aufgehangen, um nicht mehr<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">III. 21<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[321/0329] len wir dem Arzt, dieſe dem Moraliſten zu erforſchen uͤberlaſſen, und bey einer ſo oft durchgearbeiteten Materie, nur den Haupt¬ punct beachten, wo ſich jene Erſcheinung am deutlichſten ausſpricht. Alles Behagen am Leben iſt auf eine regelmaͤßige Wiederkehr der aͤußeren Dinge gegruͤndet. Der Wechſel von Tag und Nacht, der Jahreszeiten, der Bluͤ¬ ten und Fruͤchte, und was uns ſonſt von Epoche zu Epoche entgegentritt, damit wir es genießen koͤnnen und ſollen, dieſe ſind die ei¬ gentlichen Triebfedern des irdiſchen Lebens. Je offener wir fuͤr dieſe Genuͤſſe ſind, deſto gluͤcklicher fuͤhlen wir uns; waͤlzt ſich aber die Verſchiedenheit dieſer Erſcheinungen vor uns auf und nieder, ohne daß wir daran Theil nehmen, ſind wir gegen ſo holde An¬ erbietungen unempfaͤnglich: dann tritt das groͤßte Uebel, die ſchwerſte Krankheit ein, man betrachtet das Leben als eine ekelhafte Laſt. Von einem Englaͤnder wird erzaͤhlt, er habe ſich aufgehangen, um nicht mehr III. 21

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/329
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/329>, abgerufen am 18.05.2024.