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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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Möglichkeit, mir die Dinge auch außer ihrem
Zusammenhange lebendig zu machen und zu
vergegenwärtigen, setzte mich in den Fall, in
einem Jahrhundert, in einer Abtheilung der
Wissenschaft völlig zu Hause zu seyn, ohne
daß ich weder von dem Vorhergehenden noch
von dem Nachfolgenden irgend unterrichtet
gewesen wäre. Eben so war ein gewisser theo¬
retisch-practischer Sinn in mir aufgegangen,
daß ich von den Dingen, mehr wie sie seyn
sollten als wie sie waren, Rechenschaft geben
konnte, ohne eigentlichen philosophischen Zu¬
sammenhang, aber sprungweise treffend. Hie¬
zu kam eine sehr leichte Fassungskraft und
ein freundliches Aufnehmen der Meynungen
anderer, wenn sie nur nicht mit meinen Ue¬
berzeugungen in geradem Widerspruch standen.

Jener literarische Verein ward überdieß
durch eine lebhafte Correspondenz und, bey
der Nähe der Ortschaften, durch öftere per¬
sönliche Unterhandlungen begünstigt. Wer das

Moͤglichkeit, mir die Dinge auch außer ihrem
Zuſammenhange lebendig zu machen und zu
vergegenwaͤrtigen, ſetzte mich in den Fall, in
einem Jahrhundert, in einer Abtheilung der
Wiſſenſchaft voͤllig zu Hauſe zu ſeyn, ohne
daß ich weder von dem Vorhergehenden noch
von dem Nachfolgenden irgend unterrichtet
geweſen waͤre. Eben ſo war ein gewiſſer theo¬
retiſch-practiſcher Sinn in mir aufgegangen,
daß ich von den Dingen, mehr wie ſie ſeyn
ſollten als wie ſie waren, Rechenſchaft geben
konnte, ohne eigentlichen philoſophiſchen Zu¬
ſammenhang, aber ſprungweiſe treffend. Hie¬
zu kam eine ſehr leichte Faſſungskraft und
ein freundliches Aufnehmen der Meynungen
anderer, wenn ſie nur nicht mit meinen Ue¬
berzeugungen in geradem Widerſpruch ſtanden.

Jener literariſche Verein ward uͤberdieß
durch eine lebhafte Correſpondenz und, bey
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[252/0260] Moͤglichkeit, mir die Dinge auch außer ihrem Zuſammenhange lebendig zu machen und zu vergegenwaͤrtigen, ſetzte mich in den Fall, in einem Jahrhundert, in einer Abtheilung der Wiſſenſchaft voͤllig zu Hauſe zu ſeyn, ohne daß ich weder von dem Vorhergehenden noch von dem Nachfolgenden irgend unterrichtet geweſen waͤre. Eben ſo war ein gewiſſer theo¬ retiſch-practiſcher Sinn in mir aufgegangen, daß ich von den Dingen, mehr wie ſie ſeyn ſollten als wie ſie waren, Rechenſchaft geben konnte, ohne eigentlichen philoſophiſchen Zu¬ ſammenhang, aber ſprungweiſe treffend. Hie¬ zu kam eine ſehr leichte Faſſungskraft und ein freundliches Aufnehmen der Meynungen anderer, wenn ſie nur nicht mit meinen Ue¬ berzeugungen in geradem Widerſpruch ſtanden. Jener literariſche Verein ward uͤberdieß durch eine lebhafte Correſpondenz und, bey der Naͤhe der Ortſchaften, durch oͤftere per¬ ſoͤnliche Unterhandlungen beguͤnſtigt. Wer das

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/260>, abgerufen am 24.11.2024.