im Ganzen loben oder tadeln könne; beson¬ ders sehe ich nicht gerne, wenn man gewisse Talente, die von der Zeit hervorgerufen wer¬ den, so hoch erhebt und rühmt, andere dage¬ gen schilt und niederdrückt. Die Kehle der Nachtigall wird durch das Frühjahr aufgeregt, zugleich aber auch die Gurgel des Guckuks. Die Schmetterlinge, die dem Auge so wohl thun, und die Mücken, welche dem Gefühl so verdrießlich fallen, werden durch eben die Sonnenwärme hervorgerufen; beherzigte man dieß, so würde man dieselbigen Klagen nicht alle zehn Jahre wieder erneuert hören, und die vergebliche Mühe, dieses und jenes Mis¬ fällige auszurotten, würde nicht so oft ver¬ schwendet werden." Die Gesellschaft sah mich mit Verwunderung an, woher mir so viele Weisheit und so viele Toleranz käme? Ich aber fuhr ganz gelassen fort, die literarischen Erscheinungen mit Naturproducten zu verglei¬ chen, und ich weiß nicht, wie ich sogar auf die Melusken kam, und allerley Wunderliches
im Ganzen loben oder tadeln koͤnne; beſon¬ ders ſehe ich nicht gerne, wenn man gewiſſe Talente, die von der Zeit hervorgerufen wer¬ den, ſo hoch erhebt und ruͤhmt, andere dage¬ gen ſchilt und niederdruͤckt. Die Kehle der Nachtigall wird durch das Fruͤhjahr aufgeregt, zugleich aber auch die Gurgel des Guckuks. Die Schmetterlinge, die dem Auge ſo wohl thun, und die Muͤcken, welche dem Gefuͤhl ſo verdrießlich fallen, werden durch eben die Sonnenwaͤrme hervorgerufen; beherzigte man dieß, ſo wuͤrde man dieſelbigen Klagen nicht alle zehn Jahre wieder erneuert hoͤren, und die vergebliche Muͤhe, dieſes und jenes Mis¬ faͤllige auszurotten, wuͤrde nicht ſo oft ver¬ ſchwendet werden.“ Die Geſellſchaft ſah mich mit Verwunderung an, woher mir ſo viele Weisheit und ſo viele Toleranz kaͤme? Ich aber fuhr ganz gelaſſen fort, die literariſchen Erſcheinungen mit Naturproducten zu verglei¬ chen, und ich weiß nicht, wie ich ſogar auf die Melusken kam, und allerley Wunderliches
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0255"n="247"/>
im Ganzen loben oder tadeln koͤnne; beſon¬<lb/>
ders ſehe ich nicht gerne, wenn man gewiſſe<lb/>
Talente, die von der Zeit hervorgerufen wer¬<lb/>
den, ſo hoch erhebt und ruͤhmt, andere dage¬<lb/>
gen ſchilt und niederdruͤckt. Die Kehle der<lb/>
Nachtigall wird durch das Fruͤhjahr aufgeregt,<lb/>
zugleich aber auch die Gurgel des Guckuks.<lb/>
Die Schmetterlinge, die dem Auge ſo wohl<lb/>
thun, und die Muͤcken, welche dem Gefuͤhl<lb/>ſo verdrießlich fallen, werden durch eben die<lb/>
Sonnenwaͤrme hervorgerufen; beherzigte man<lb/>
dieß, ſo wuͤrde man dieſelbigen Klagen nicht<lb/>
alle zehn Jahre wieder erneuert hoͤren, und<lb/>
die vergebliche Muͤhe, dieſes und jenes Mis¬<lb/>
faͤllige auszurotten, wuͤrde nicht ſo oft ver¬<lb/>ſchwendet werden.“ Die Geſellſchaft ſah mich<lb/>
mit Verwunderung an, woher mir ſo viele<lb/>
Weisheit und ſo viele Toleranz kaͤme? Ich<lb/>
aber fuhr ganz gelaſſen fort, die literariſchen<lb/>
Erſcheinungen mit Naturproducten zu verglei¬<lb/>
chen, und ich weiß nicht, wie ich ſogar auf<lb/>
die Melusken kam, und allerley Wunderliches<lb/></p></div></body></text></TEI>
[247/0255]
im Ganzen loben oder tadeln koͤnne; beſon¬
ders ſehe ich nicht gerne, wenn man gewiſſe
Talente, die von der Zeit hervorgerufen wer¬
den, ſo hoch erhebt und ruͤhmt, andere dage¬
gen ſchilt und niederdruͤckt. Die Kehle der
Nachtigall wird durch das Fruͤhjahr aufgeregt,
zugleich aber auch die Gurgel des Guckuks.
Die Schmetterlinge, die dem Auge ſo wohl
thun, und die Muͤcken, welche dem Gefuͤhl
ſo verdrießlich fallen, werden durch eben die
Sonnenwaͤrme hervorgerufen; beherzigte man
dieß, ſo wuͤrde man dieſelbigen Klagen nicht
alle zehn Jahre wieder erneuert hoͤren, und
die vergebliche Muͤhe, dieſes und jenes Mis¬
faͤllige auszurotten, wuͤrde nicht ſo oft ver¬
ſchwendet werden.“ Die Geſellſchaft ſah mich
mit Verwunderung an, woher mir ſo viele
Weisheit und ſo viele Toleranz kaͤme? Ich
aber fuhr ganz gelaſſen fort, die literariſchen
Erſcheinungen mit Naturproducten zu verglei¬
chen, und ich weiß nicht, wie ich ſogar auf
die Melusken kam, und allerley Wunderliches
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/255>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.