Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

wöhnlich und sehr gern tranken, entsagte.
Diese unerträgliche Unbequemlichkeit hatte mich
auch in Sesenheim verlassen, so daß ich mich
dort doppelt vergnügt befand; als ich aber zu
meiner städtischen Diät zurückkehrte, stellte
sie sich zu meinem großen Verdruß sogleich
wieder ein. Alles dieß machte mich nachdenk¬
lich und mürrisch, und mein Aeußeres mochte
mit dem Innern übereinstimmen.

Verdrießlicher als jemals, weil eben
nach Tische jenes Uebel sich heftig eingefun¬
den hatte, wohnte ich dem Klinikum bey.
Die große Heiterkeit und Behaglichkeit wo¬
mit der verehrte Lehrer uns von Bett zu
Bett führte, die genaue Bemerkung bedeu¬
tender Symptome, die Beurtheilung des
Gangs der Krankheit überhaupt, die schöne
Hippocratische Verfahrungsart, wodurch sich,
ohne Theorie, aus einer eignen Erfahrung, die
Gestalten des Wissens heraufgaben, die
Schlußreden mit denen er gewöhnlich seine

woͤhnlich und ſehr gern tranken, entſagte.
Dieſe unertraͤgliche Unbequemlichkeit hatte mich
auch in Seſenheim verlaſſen, ſo daß ich mich
dort doppelt vergnuͤgt befand; als ich aber zu
meiner ſtaͤdtiſchen Diaͤt zuruͤckkehrte, ſtellte
ſie ſich zu meinem großen Verdruß ſogleich
wieder ein. Alles dieß machte mich nachdenk¬
lich und muͤrriſch, und mein Aeußeres mochte
mit dem Innern uͤbereinſtimmen.

Verdrießlicher als jemals, weil eben
nach Tiſche jenes Uebel ſich heftig eingefun¬
den hatte, wohnte ich dem Klinikum bey.
Die große Heiterkeit und Behaglichkeit wo¬
mit der verehrte Lehrer uns von Bett zu
Bett fuͤhrte, die genaue Bemerkung bedeu¬
tender Symptome, die Beurtheilung des
Gangs der Krankheit uͤberhaupt, die ſchoͤne
Hippocratiſche Verfahrungsart, wodurch ſich,
ohne Theorie, aus einer eignen Erfahrung, die
Geſtalten des Wiſſens heraufgaben, die
Schlußreden mit denen er gewoͤhnlich ſeine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0017" n="9"/>
wo&#x0364;hnlich und &#x017F;ehr gern tranken, ent&#x017F;agte.<lb/>
Die&#x017F;e unertra&#x0364;gliche Unbequemlichkeit hatte mich<lb/>
auch in Se&#x017F;enheim verla&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;o daß ich mich<lb/>
dort doppelt vergnu&#x0364;gt befand; als ich aber zu<lb/>
meiner &#x017F;ta&#x0364;dti&#x017F;chen Dia&#x0364;t zuru&#x0364;ckkehrte, &#x017F;tellte<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ich zu meinem großen Verdruß &#x017F;ogleich<lb/>
wieder ein. Alles dieß machte mich nachdenk¬<lb/>
lich und mu&#x0364;rri&#x017F;ch, und mein Aeußeres mochte<lb/>
mit dem Innern u&#x0364;berein&#x017F;timmen.</p><lb/>
        <p>Verdrießlicher als jemals, weil eben<lb/>
nach Ti&#x017F;che jenes Uebel &#x017F;ich heftig eingefun¬<lb/>
den hatte, wohnte ich dem Klinikum bey.<lb/>
Die große Heiterkeit und Behaglichkeit wo¬<lb/>
mit der verehrte Lehrer uns von Bett zu<lb/>
Bett fu&#x0364;hrte, die genaue Bemerkung bedeu¬<lb/>
tender Symptome, die Beurtheilung des<lb/>
Gangs der Krankheit u&#x0364;berhaupt, die &#x017F;cho&#x0364;ne<lb/>
Hippocrati&#x017F;che Verfahrungsart, wodurch &#x017F;ich,<lb/>
ohne Theorie, aus einer eignen Erfahrung, die<lb/>
Ge&#x017F;talten des Wi&#x017F;&#x017F;ens heraufgaben, die<lb/>
Schlußreden mit denen er gewo&#x0364;hnlich &#x017F;eine<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[9/0017] woͤhnlich und ſehr gern tranken, entſagte. Dieſe unertraͤgliche Unbequemlichkeit hatte mich auch in Seſenheim verlaſſen, ſo daß ich mich dort doppelt vergnuͤgt befand; als ich aber zu meiner ſtaͤdtiſchen Diaͤt zuruͤckkehrte, ſtellte ſie ſich zu meinem großen Verdruß ſogleich wieder ein. Alles dieß machte mich nachdenk¬ lich und muͤrriſch, und mein Aeußeres mochte mit dem Innern uͤbereinſtimmen. Verdrießlicher als jemals, weil eben nach Tiſche jenes Uebel ſich heftig eingefun¬ den hatte, wohnte ich dem Klinikum bey. Die große Heiterkeit und Behaglichkeit wo¬ mit der verehrte Lehrer uns von Bett zu Bett fuͤhrte, die genaue Bemerkung bedeu¬ tender Symptome, die Beurtheilung des Gangs der Krankheit uͤberhaupt, die ſchoͤne Hippocratiſche Verfahrungsart, wodurch ſich, ohne Theorie, aus einer eignen Erfahrung, die Geſtalten des Wiſſens heraufgaben, die Schlußreden mit denen er gewoͤhnlich ſeine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/17
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/17>, abgerufen am 18.12.2024.