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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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ses nunmehr erfüllte Versprechen unter dem
Sternenhimmel gethan hatte. Ich arbeitete
mich mit unsäglicher Mühe, mit unzulängli¬
chen Hülfsmitteln und Kräften durch die fünf
Bücher und gerieth dabey auf die wunderlich¬
sten Einfälle. Ich glaubte gefunden zu haben,
daß nicht unsere Zehn-Gebote auf den Tafeln
gestanden, daß die Israeliten keine vierzig
Jahre, sondern nur kurze Zeit durch die Wüste
gewandert, und eben so bildete ich mir ein,
über den Character Mosis ganz neue Aufschlüs¬
se geben zu können.

Auch das neue Testament war vor meinen
Untersuchungen nicht sicher; ich verschonte es
nicht mit meiner Sonderungslust, aber aus
Liebe und Neigung stimmte ich doch in jenes
heilsame Wort mit ein: "Die Evangelisten mö¬
gen sich widersprechen, wenn sich nur das
Evangelium nicht widerspricht." -- Auch in
dieser Region glaubte ich allerhand Entdeckun¬
gen zu machen. Jene Gabe der Sprachen,

ſes nunmehr erfuͤllte Verſprechen unter dem
Sternenhimmel gethan hatte. Ich arbeitete
mich mit unſaͤglicher Muͤhe, mit unzulaͤngli¬
chen Huͤlfsmitteln und Kraͤften durch die fuͤnf
Buͤcher und gerieth dabey auf die wunderlich¬
ſten Einfaͤlle. Ich glaubte gefunden zu haben,
daß nicht unſere Zehn-Gebote auf den Tafeln
geſtanden, daß die Israeliten keine vierzig
Jahre, ſondern nur kurze Zeit durch die Wuͤſte
gewandert, und eben ſo bildete ich mir ein,
uͤber den Character Moſis ganz neue Aufſchluͤſ¬
ſe geben zu koͤnnen.

Auch das neue Teſtament war vor meinen
Unterſuchungen nicht ſicher; ich verſchonte es
nicht mit meiner Sonderungsluſt, aber aus
Liebe und Neigung ſtimmte ich doch in jenes
heilſame Wort mit ein: „Die Evangeliſten moͤ¬
gen ſich widerſprechen, wenn ſich nur das
Evangelium nicht widerſpricht.“ — Auch in
dieſer Region glaubte ich allerhand Entdeckun¬
gen zu machen. Jene Gabe der Sprachen,

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[157/0165] ſes nunmehr erfuͤllte Verſprechen unter dem Sternenhimmel gethan hatte. Ich arbeitete mich mit unſaͤglicher Muͤhe, mit unzulaͤngli¬ chen Huͤlfsmitteln und Kraͤften durch die fuͤnf Buͤcher und gerieth dabey auf die wunderlich¬ ſten Einfaͤlle. Ich glaubte gefunden zu haben, daß nicht unſere Zehn-Gebote auf den Tafeln geſtanden, daß die Israeliten keine vierzig Jahre, ſondern nur kurze Zeit durch die Wuͤſte gewandert, und eben ſo bildete ich mir ein, uͤber den Character Moſis ganz neue Aufſchluͤſ¬ ſe geben zu koͤnnen. Auch das neue Teſtament war vor meinen Unterſuchungen nicht ſicher; ich verſchonte es nicht mit meiner Sonderungsluſt, aber aus Liebe und Neigung ſtimmte ich doch in jenes heilſame Wort mit ein: „Die Evangeliſten moͤ¬ gen ſich widerſprechen, wenn ſich nur das Evangelium nicht widerſpricht.“ — Auch in dieſer Region glaubte ich allerhand Entdeckun¬ gen zu machen. Jene Gabe der Sprachen,

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/165>, abgerufen am 25.11.2024.