Genug, jene oben im Allgemeinen erwähn¬ ten, ernsten und die menschliche Natur unter¬ grabenden Gedichte waren die Lieblinge, die wir uns vor allen andern aussuchten, der ei¬ ne, nach seiner Gemüthsart, die leichtere ele¬ gische Trauer, der andere die schwer lastende, alles aufgebende Verzweiflung suchend. Son¬ derbar genug bestärkte unser Vater und Leh¬ rer Shakspeare, der so reine Heiterkeit zu verbreiten weiß, selbst diesen Unwillen. Ham¬ let und seine Monologen blieben Gespenster, die durch alle jungen Gemüther ihren Spuk trieben. Die Hauptstellen wußte ein Jeder auswendig und recitirte sie gern, und Jeder¬ man glaubte, er dürfe eben so melancholisch seyn, als der Prinz von Dänemark, ob er gleich keinen Geist gesehn und keinen königli¬ chen Vater zu rächen hatte.
Damit aber ja allem diesem Trübsinn nicht ein vollkommen passendes Local abgehe, so hat¬ te uns Ossian bis ans letzte Thule gelockt,
Genug, jene oben im Allgemeinen erwaͤhn¬ ten, ernſten und die menſchliche Natur unter¬ grabenden Gedichte waren die Lieblinge, die wir uns vor allen andern ausſuchten, der ei¬ ne, nach ſeiner Gemuͤthsart, die leichtere ele¬ giſche Trauer, der andere die ſchwer laſtende, alles aufgebende Verzweiflung ſuchend. Son¬ derbar genug beſtaͤrkte unſer Vater und Leh¬ rer Shakspeare, der ſo reine Heiterkeit zu verbreiten weiß, ſelbſt dieſen Unwillen. Ham¬ let und ſeine Monologen blieben Geſpenſter, die durch alle jungen Gemuͤther ihren Spuk trieben. Die Hauptſtellen wußte ein Jeder auswendig und recitirte ſie gern, und Jeder¬ man glaubte, er duͤrfe eben ſo melancholiſch ſeyn, als der Prinz von Daͤnemark, ob er gleich keinen Geiſt geſehn und keinen koͤnigli¬ chen Vater zu raͤchen hatte.
Damit aber ja allem dieſem Truͤbſinn nicht ein vollkommen paſſendes Local abgehe, ſo hat¬ te uns Oſſian bis ans letzte Thule gelockt,
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0339"n="331"/><p>Genug, jene oben im Allgemeinen erwaͤhn¬<lb/>
ten, ernſten und die menſchliche Natur unter¬<lb/>
grabenden Gedichte waren die Lieblinge, die<lb/>
wir uns vor allen andern ausſuchten, der ei¬<lb/>
ne, nach ſeiner Gemuͤthsart, die leichtere ele¬<lb/>
giſche Trauer, der andere die ſchwer laſtende,<lb/>
alles aufgebende Verzweiflung ſuchend. Son¬<lb/>
derbar genug beſtaͤrkte unſer Vater und Leh¬<lb/>
rer Shakspeare, der ſo reine Heiterkeit zu<lb/>
verbreiten weiß, ſelbſt dieſen Unwillen. Ham¬<lb/>
let und ſeine Monologen blieben Geſpenſter,<lb/>
die durch alle jungen Gemuͤther ihren Spuk<lb/>
trieben. Die Hauptſtellen wußte ein Jeder<lb/>
auswendig und recitirte ſie gern, und Jeder¬<lb/>
man glaubte, er duͤrfe eben ſo melancholiſch<lb/>ſeyn, als der Prinz von Daͤnemark, ob er<lb/>
gleich keinen Geiſt geſehn und keinen koͤnigli¬<lb/>
chen Vater zu raͤchen hatte.</p><lb/><p>Damit aber ja allem dieſem Truͤbſinn nicht<lb/>
ein vollkommen paſſendes Local abgehe, ſo hat¬<lb/>
te uns <hirendition="#g">Oſſian</hi> bis ans letzte Thule gelockt,<lb/></p></div></body></text></TEI>
[331/0339]
Genug, jene oben im Allgemeinen erwaͤhn¬
ten, ernſten und die menſchliche Natur unter¬
grabenden Gedichte waren die Lieblinge, die
wir uns vor allen andern ausſuchten, der ei¬
ne, nach ſeiner Gemuͤthsart, die leichtere ele¬
giſche Trauer, der andere die ſchwer laſtende,
alles aufgebende Verzweiflung ſuchend. Son¬
derbar genug beſtaͤrkte unſer Vater und Leh¬
rer Shakspeare, der ſo reine Heiterkeit zu
verbreiten weiß, ſelbſt dieſen Unwillen. Ham¬
let und ſeine Monologen blieben Geſpenſter,
die durch alle jungen Gemuͤther ihren Spuk
trieben. Die Hauptſtellen wußte ein Jeder
auswendig und recitirte ſie gern, und Jeder¬
man glaubte, er duͤrfe eben ſo melancholiſch
ſeyn, als der Prinz von Daͤnemark, ob er
gleich keinen Geiſt geſehn und keinen koͤnigli¬
chen Vater zu raͤchen hatte.
Damit aber ja allem dieſem Truͤbſinn nicht
ein vollkommen paſſendes Local abgehe, ſo hat¬
te uns Oſſian bis ans letzte Thule gelockt,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/339>, abgerufen am 26.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.