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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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stand des Schulunterrichts kennt, wird nicht
seltsam finden, daß ich die Grammatik über¬
sprang, so wie die Redekunst: mir schien al¬
les natürlich zuzugehen, ich behielt die Wor¬
te, ihre Bildungen und Umbildungen in Ohr
und Sinn, und bediente mich der Sprache
mit Leichtigkeit zum Schreiben und Schwätzen.

Michael, die Zeit, da ich die Academie
besuchen sollte, rückte heran, und mein In¬
neres ward eben so sehr vom Leben als von
der Lehre bewegt. Eine Abneigung gegen
meine Vaterstadt ward mir immer deutlicher.
Durch Gretchens Entfernung war der Kna¬
ben- und Jünglingspflanze das Herz ausge¬
brochen; sie brauchte Zeit, um an den Seiten
wieder auszuschlagen und den ersten Schaden
durch neues Wachsthum zu überwinden. Mei¬
ne Wanderungen durch die Straßen hatten
aufgehört, ich ging nur, wie Andere, die noth¬
wendigen Wege. Nach Gretchens Viertel kam
ich nie wieder, nicht einmal in die Gegend;

ſtand des Schulunterrichts kennt, wird nicht
ſeltſam finden, daß ich die Grammatik uͤber¬
ſprang, ſo wie die Redekunſt: mir ſchien al¬
les natuͤrlich zuzugehen, ich behielt die Wor¬
te, ihre Bildungen und Umbildungen in Ohr
und Sinn, und bediente mich der Sprache
mit Leichtigkeit zum Schreiben und Schwaͤtzen.

Michael, die Zeit, da ich die Academie
beſuchen ſollte, ruͤckte heran, und mein In¬
neres ward eben ſo ſehr vom Leben als von
der Lehre bewegt. Eine Abneigung gegen
meine Vaterſtadt ward mir immer deutlicher.
Durch Gretchens Entfernung war der Kna¬
ben- und Juͤnglingspflanze das Herz ausge¬
brochen; ſie brauchte Zeit, um an den Seiten
wieder auszuſchlagen und den erſten Schaden
durch neues Wachsthum zu uͤberwinden. Mei¬
ne Wanderungen durch die Straßen hatten
aufgehoͤrt, ich ging nur, wie Andere, die noth¬
wendigen Wege. Nach Gretchens Viertel kam
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[58/0066] ſtand des Schulunterrichts kennt, wird nicht ſeltſam finden, daß ich die Grammatik uͤber¬ ſprang, ſo wie die Redekunſt: mir ſchien al¬ les natuͤrlich zuzugehen, ich behielt die Wor¬ te, ihre Bildungen und Umbildungen in Ohr und Sinn, und bediente mich der Sprache mit Leichtigkeit zum Schreiben und Schwaͤtzen. Michael, die Zeit, da ich die Academie beſuchen ſollte, ruͤckte heran, und mein In¬ neres ward eben ſo ſehr vom Leben als von der Lehre bewegt. Eine Abneigung gegen meine Vaterſtadt ward mir immer deutlicher. Durch Gretchens Entfernung war der Kna¬ ben- und Juͤnglingspflanze das Herz ausge¬ brochen; ſie brauchte Zeit, um an den Seiten wieder auszuſchlagen und den erſten Schaden durch neues Wachsthum zu uͤberwinden. Mei¬ ne Wanderungen durch die Straßen hatten aufgehoͤrt, ich ging nur, wie Andere, die noth¬ wendigen Wege. Nach Gretchens Viertel kam ich nie wieder, nicht einmal in die Gegend;

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/66>, abgerufen am 19.05.2024.