Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

lich nicht frommte. Emilie dagegen, die ih¬
re Schwester zu begütigen suchte, gab mir
hinterwärts ein Zeichen, daß ich mich ent¬
fernen sollte; aber wie Eifersucht und Arg¬
wohn mit tausend Augen sehen, so schien
auch Lucinde es bemerkt zu haben. Sie
sprang auf und ging auf mich los, aber
nicht mit Heftigkeit. Sie stand vor mir und
schien auf etwas zu sinnen. Drauf sagte sie:
Ich weiß, daß ich Sie verloren habe; ich
mache keine weitern Ansprüche auf Sie. Aber
Du sollst ihn auch nicht haben, Schwester!
Sie faßte mich mit diesen Worten ganz ei¬
gentlich beym Kopf, indem sie mir mit bey¬
den Händen in die Locken fuhr, mein Ge¬
sicht an das ihre drückte und mich zu wieder¬
holten Malen auf den Mund küßte. Nun,
rief sie aus, fürchte meine Verwünschung.
Unglück über Unglück für immer und immer
auf diejenige, die zum ersten Male nach mir
diese Lippen küßt! Wage es nun wieder mit

lich nicht frommte. Emilie dagegen, die ih¬
re Schweſter zu beguͤtigen ſuchte, gab mir
hinterwaͤrts ein Zeichen, daß ich mich ent¬
fernen ſollte; aber wie Eiferſucht und Arg¬
wohn mit tauſend Augen ſehen, ſo ſchien
auch Lucinde es bemerkt zu haben. Sie
ſprang auf und ging auf mich los, aber
nicht mit Heftigkeit. Sie ſtand vor mir und
ſchien auf etwas zu ſinnen. Drauf ſagte ſie:
Ich weiß, daß ich Sie verloren habe; ich
mache keine weitern Anſpruͤche auf Sie. Aber
Du ſollſt ihn auch nicht haben, Schweſter!
Sie faßte mich mit dieſen Worten ganz ei¬
gentlich beym Kopf, indem ſie mir mit bey¬
den Haͤnden in die Locken fuhr, mein Ge¬
ſicht an das ihre druͤckte und mich zu wieder¬
holten Malen auf den Mund kuͤßte. Nun,
rief ſie aus, fuͤrchte meine Verwuͤnſchung.
Ungluͤck uͤber Ungluͤck fuͤr immer und immer
auf diejenige, die zum erſten Male nach mir
dieſe Lippen kuͤßt! Wage es nun wieder mit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0451" n="443"/>
lich nicht frommte. Emilie dagegen, die ih¬<lb/>
re Schwe&#x017F;ter zu begu&#x0364;tigen &#x017F;uchte, gab mir<lb/>
hinterwa&#x0364;rts ein Zeichen, daß ich mich ent¬<lb/>
fernen &#x017F;ollte; aber wie Eifer&#x017F;ucht und Arg¬<lb/>
wohn mit tau&#x017F;end Augen &#x017F;ehen, &#x017F;o &#x017F;chien<lb/>
auch Lucinde es bemerkt zu haben. Sie<lb/>
&#x017F;prang auf und ging auf mich los, aber<lb/>
nicht mit Heftigkeit. Sie &#x017F;tand vor mir und<lb/>
&#x017F;chien auf etwas zu &#x017F;innen. Drauf &#x017F;agte &#x017F;ie:<lb/>
Ich weiß, daß ich Sie verloren habe; ich<lb/>
mache keine weitern An&#x017F;pru&#x0364;che auf Sie. Aber<lb/>
Du &#x017F;oll&#x017F;t ihn auch nicht haben, Schwe&#x017F;ter!<lb/>
Sie faßte mich mit die&#x017F;en Worten ganz ei¬<lb/>
gentlich beym Kopf, indem &#x017F;ie mir mit bey¬<lb/>
den Ha&#x0364;nden in die Locken fuhr, mein Ge¬<lb/>
&#x017F;icht an das ihre dru&#x0364;ckte und mich zu wieder¬<lb/>
holten Malen auf den Mund ku&#x0364;ßte. Nun,<lb/>
rief &#x017F;ie aus, fu&#x0364;rchte meine Verwu&#x0364;n&#x017F;chung.<lb/>
Unglu&#x0364;ck u&#x0364;ber Unglu&#x0364;ck fu&#x0364;r immer und immer<lb/>
auf diejenige, die zum er&#x017F;ten Male nach mir<lb/>
die&#x017F;e Lippen ku&#x0364;ßt! Wage es nun wieder mit<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[443/0451] lich nicht frommte. Emilie dagegen, die ih¬ re Schweſter zu beguͤtigen ſuchte, gab mir hinterwaͤrts ein Zeichen, daß ich mich ent¬ fernen ſollte; aber wie Eiferſucht und Arg¬ wohn mit tauſend Augen ſehen, ſo ſchien auch Lucinde es bemerkt zu haben. Sie ſprang auf und ging auf mich los, aber nicht mit Heftigkeit. Sie ſtand vor mir und ſchien auf etwas zu ſinnen. Drauf ſagte ſie: Ich weiß, daß ich Sie verloren habe; ich mache keine weitern Anſpruͤche auf Sie. Aber Du ſollſt ihn auch nicht haben, Schweſter! Sie faßte mich mit dieſen Worten ganz ei¬ gentlich beym Kopf, indem ſie mir mit bey¬ den Haͤnden in die Locken fuhr, mein Ge¬ ſicht an das ihre druͤckte und mich zu wieder¬ holten Malen auf den Mund kuͤßte. Nun, rief ſie aus, fuͤrchte meine Verwuͤnſchung. Ungluͤck uͤber Ungluͤck fuͤr immer und immer auf diejenige, die zum erſten Male nach mir dieſe Lippen kuͤßt! Wage es nun wieder mit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/451
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 443. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/451>, abgerufen am 22.11.2024.