dicularen Abtheilungen. Man vergegenwärti¬ ge sich die stufenweis zurücktretenden Pfeiler, von schlanken, gleichfalls in die Höhe streben¬ den, zum Schutz der Heiligenbilder baldachin¬ artig bestimmten, leichtsäuligen Spitzgebäud¬ chen begleitet, und wie zuletzt jede Rippe, jeder Knopf als Blumenknauf und Blattrei¬ he, oder als irgend ein anderes im Stein¬ sinn umgeformtes Naturgebilde erscheint. Man vergleiche das Gebäude, wo nicht selbst, doch Abbildungen des Ganzen und des Einzelnen, zu Beurtheilung und Belebung meiner Aus¬ sage. Sie könnte manchem übertrieben schei¬ nen: denn ich selbst, zwar im ersten Anblicke zur Neigung gegen dieses Werk hingerissen, brauchte doch lange Zeit, mich mit seinem Werth innig bekannt zu machen.
Unter Tadlern der gothischen Baukunst aufgewachsen, nährte ich meine Abneigung ge¬ gen die vielfach überladenen, verworrenen Zieraten, die durch ihre Willkührlichkeit einen
dicularen Abtheilungen. Man vergegenwaͤrti¬ ge ſich die ſtufenweis zuruͤcktretenden Pfeiler, von ſchlanken, gleichfalls in die Hoͤhe ſtreben¬ den, zum Schutz der Heiligenbilder baldachin¬ artig beſtimmten, leichtſaͤuligen Spitzgebaͤud¬ chen begleitet, und wie zuletzt jede Rippe, jeder Knopf als Blumenknauf und Blattrei¬ he, oder als irgend ein anderes im Stein¬ ſinn umgeformtes Naturgebilde erſcheint. Man vergleiche das Gebaͤude, wo nicht ſelbſt, doch Abbildungen des Ganzen und des Einzelnen, zu Beurtheilung und Belebung meiner Aus¬ ſage. Sie koͤnnte manchem uͤbertrieben ſchei¬ nen: denn ich ſelbſt, zwar im erſten Anblicke zur Neigung gegen dieſes Werk hingeriſſen, brauchte doch lange Zeit, mich mit ſeinem Werth innig bekannt zu machen.
Unter Tadlern der gothiſchen Baukunſt aufgewachſen, naͤhrte ich meine Abneigung ge¬ gen die vielfach uͤberladenen, verworrenen Zieraten, die durch ihre Willkuͤhrlichkeit einen
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dicularen Abtheilungen. Man vergegenwaͤrti¬
ge ſich die ſtufenweis zuruͤcktretenden Pfeiler,
von ſchlanken, gleichfalls in die Hoͤhe ſtreben¬
den, zum Schutz der Heiligenbilder baldachin¬
artig beſtimmten, leichtſaͤuligen Spitzgebaͤud¬
chen begleitet, und wie zuletzt jede Rippe,
jeder Knopf als Blumenknauf und Blattrei¬
he, oder als irgend ein anderes im Stein¬
ſinn umgeformtes Naturgebilde erſcheint. Man
vergleiche das Gebaͤude, wo nicht ſelbſt, doch
Abbildungen des Ganzen und des Einzelnen,
zu Beurtheilung und Belebung meiner Aus¬
ſage. Sie koͤnnte manchem uͤbertrieben ſchei¬
nen: denn ich ſelbſt, zwar im erſten Anblicke
zur Neigung gegen dieſes Werk hingeriſſen,
brauchte doch lange Zeit, mich mit ſeinem
Werth innig bekannt zu machen.
Unter Tadlern der gothiſchen Baukunſt
aufgewachſen, naͤhrte ich meine Abneigung ge¬
gen die vielfach uͤberladenen, verworrenen
Zieraten, die durch ihre Willkuͤhrlichkeit einen
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 415. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/423>, abgerufen am 25.11.2024.
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