teste Stirn hatte und dabey ein Paar starke schwarze Augenbrauen und vorliegende Augen; so entstand aus diesen Verhältnissen ein Con¬ trast, der einen jeden Fremden für den ersten Augenblick wo nicht abstieß, doch wenigstens nicht anzog. Sie empfand es früh, und dieß Gefühl ward immer peinlicher, je mehr sie in die Jahre trat, wo beyde Geschlechter ei¬ ne unschuldige Freude empfinden, sich wechsel¬ seitig angenehm zu werden.
Niemanden kann seine eigne Gestalt zu¬ wider seyn, der Häßlichste wie der Schönste hat das Recht sich seiner Gegenwart zu freu¬ en; und da das Wohlwollen verschönt, und sich Jedermann mit Wohlwollen im Spiegel besieht, so kann man behaupten, daß Jeder sich auch mit Wohlgefallen erblicken müsse, selbst wenn er sich dagegen sträuben wollte. Meine Schwester hatte jedoch eine so entschie¬ dene Anlage zum Verstand, daß sie hier un¬ möglich blind und albern seyn konnte; sie
II. 3
teſte Stirn hatte und dabey ein Paar ſtarke ſchwarze Augenbrauen und vorliegende Augen; ſo entſtand aus dieſen Verhaͤltniſſen ein Con¬ traſt, der einen jeden Fremden fuͤr den erſten Augenblick wo nicht abſtieß, doch wenigſtens nicht anzog. Sie empfand es fruͤh, und dieß Gefuͤhl ward immer peinlicher, je mehr ſie in die Jahre trat, wo beyde Geſchlechter ei¬ ne unſchuldige Freude empfinden, ſich wechſel¬ ſeitig angenehm zu werden.
Niemanden kann ſeine eigne Geſtalt zu¬ wider ſeyn, der Haͤßlichſte wie der Schoͤnſte hat das Recht ſich ſeiner Gegenwart zu freu¬ en; und da das Wohlwollen verſchoͤnt, und ſich Jedermann mit Wohlwollen im Spiegel beſieht, ſo kann man behaupten, daß Jeder ſich auch mit Wohlgefallen erblicken muͤſſe, ſelbſt wenn er ſich dagegen ſtraͤuben wollte. Meine Schweſter hatte jedoch eine ſo entſchie¬ dene Anlage zum Verſtand, daß ſie hier un¬ moͤglich blind und albern ſeyn konnte; ſie
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teſte Stirn hatte und dabey ein Paar ſtarke
ſchwarze Augenbrauen und vorliegende Augen;
ſo entſtand aus dieſen Verhaͤltniſſen ein Con¬
traſt, der einen jeden Fremden fuͤr den erſten
Augenblick wo nicht abſtieß, doch wenigſtens
nicht anzog. Sie empfand es fruͤh, und dieß
Gefuͤhl ward immer peinlicher, je mehr ſie
in die Jahre trat, wo beyde Geſchlechter ei¬
ne unſchuldige Freude empfinden, ſich wechſel¬
ſeitig angenehm zu werden.
Niemanden kann ſeine eigne Geſtalt zu¬
wider ſeyn, der Haͤßlichſte wie der Schoͤnſte
hat das Recht ſich ſeiner Gegenwart zu freu¬
en; und da das Wohlwollen verſchoͤnt, und
ſich Jedermann mit Wohlwollen im Spiegel
beſieht, ſo kann man behaupten, daß Jeder
ſich auch mit Wohlgefallen erblicken muͤſſe,
ſelbſt wenn er ſich dagegen ſtraͤuben wollte.
Meine Schweſter hatte jedoch eine ſo entſchie¬
dene Anlage zum Verſtand, daß ſie hier un¬
moͤglich blind und albern ſeyn konnte; ſie
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/41>, abgerufen am 23.11.2024.
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