ses alles vorausgesetzt, schien mir nichts na¬ türlicher als ihn aufzusuchen, mich mit ihm zu unterhalten, ja bey ihm zu wohnen und ihn recht genau kennen zu lernen. Mein gu¬ ter Candidat gab mir, nach einigem Wider¬ streben, einen mühsam geschriebenen Brief mit, und ich fuhr, meine Matrikel in der Ta¬ sche, mit der gelben Kutsche sehnsuchtsvoll nach Dresden.
Ich suchte nach meinem Schuster und fand ihn bald in der Vorstadt. Auf seinem Sche¬ mel sitzend empfing er mich freundlich und sagte lächelnd, nachdem er den Brief gelesen: "Ich sehe hieraus, junger Herr, daß Ihr ein wunderlicher Christ seyd." Wie das, Mei¬ ster? versetzte ich. Wunderlich ist nicht übel gemeynt, fuhr er fort, man nennt Jemand so, der sich nicht gleich ist, und ich nenne Sie einen wunderlichen Christen, weil Sie Sich in einem Stück als den Nachfolger des Herrn bekennen, in dem anderen aber nicht.
ſes alles vorausgeſetzt, ſchien mir nichts na¬ tuͤrlicher als ihn aufzuſuchen, mich mit ihm zu unterhalten, ja bey ihm zu wohnen und ihn recht genau kennen zu lernen. Mein gu¬ ter Candidat gab mir, nach einigem Wider¬ ſtreben, einen muͤhſam geſchriebenen Brief mit, und ich fuhr, meine Matrikel in der Ta¬ ſche, mit der gelben Kutſche ſehnſuchtsvoll nach Dresden.
Ich ſuchte nach meinem Schuſter und fand ihn bald in der Vorſtadt. Auf ſeinem Sche¬ mel ſitzend empfing er mich freundlich und ſagte laͤchelnd, nachdem er den Brief geleſen: „Ich ſehe hieraus, junger Herr, daß Ihr ein wunderlicher Chriſt ſeyd.“ Wie das, Mei¬ ſter? verſetzte ich. Wunderlich iſt nicht uͤbel gemeynt, fuhr er fort, man nennt Jemand ſo, der ſich nicht gleich iſt, und ich nenne Sie einen wunderlichen Chriſten, weil Sie Sich in einem Stuͤck als den Nachfolger des Herrn bekennen, in dem anderen aber nicht.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0263"n="255"/>ſes alles vorausgeſetzt, ſchien mir nichts na¬<lb/>
tuͤrlicher als ihn aufzuſuchen, mich mit ihm<lb/>
zu unterhalten, ja bey ihm zu wohnen und<lb/>
ihn recht genau kennen zu lernen. Mein gu¬<lb/>
ter Candidat gab mir, nach einigem Wider¬<lb/>ſtreben, einen muͤhſam geſchriebenen Brief<lb/>
mit, und ich fuhr, meine Matrikel in der Ta¬<lb/>ſche, mit der gelben Kutſche ſehnſuchtsvoll<lb/>
nach Dresden.</p><lb/><p>Ich ſuchte nach meinem Schuſter und fand<lb/>
ihn bald in der Vorſtadt. Auf ſeinem Sche¬<lb/>
mel ſitzend empfing er mich freundlich und<lb/>ſagte laͤchelnd, nachdem er den Brief geleſen:<lb/>„Ich ſehe hieraus, junger Herr, daß Ihr<lb/>
ein wunderlicher Chriſt ſeyd.“ Wie das, Mei¬<lb/>ſter? verſetzte ich. Wunderlich iſt nicht uͤbel<lb/>
gemeynt, fuhr er fort, man nennt Jemand<lb/>ſo, der ſich nicht gleich iſt, und ich nenne<lb/>
Sie einen wunderlichen Chriſten, weil Sie<lb/>
Sich in einem Stuͤck als den Nachfolger des<lb/>
Herrn bekennen, in dem anderen aber nicht.<lb/></p></div></body></text></TEI>
[255/0263]
ſes alles vorausgeſetzt, ſchien mir nichts na¬
tuͤrlicher als ihn aufzuſuchen, mich mit ihm
zu unterhalten, ja bey ihm zu wohnen und
ihn recht genau kennen zu lernen. Mein gu¬
ter Candidat gab mir, nach einigem Wider¬
ſtreben, einen muͤhſam geſchriebenen Brief
mit, und ich fuhr, meine Matrikel in der Ta¬
ſche, mit der gelben Kutſche ſehnſuchtsvoll
nach Dresden.
Ich ſuchte nach meinem Schuſter und fand
ihn bald in der Vorſtadt. Auf ſeinem Sche¬
mel ſitzend empfing er mich freundlich und
ſagte laͤchelnd, nachdem er den Brief geleſen:
„Ich ſehe hieraus, junger Herr, daß Ihr
ein wunderlicher Chriſt ſeyd.“ Wie das, Mei¬
ſter? verſetzte ich. Wunderlich iſt nicht uͤbel
gemeynt, fuhr er fort, man nennt Jemand
ſo, der ſich nicht gleich iſt, und ich nenne
Sie einen wunderlichen Chriſten, weil Sie
Sich in einem Stuͤck als den Nachfolger des
Herrn bekennen, in dem anderen aber nicht.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/263>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.