Schriftsteller bey mir hegte, durch lieblose Anmerkungen, die er über die Schriften und Gedichte dieses und jenes mit Witz und Laune vorzubringen wußte. Meine eigenen Sachen nahm er mit Nachsicht auf und ließ mich ge¬ währen; nur unter der Bedingung, daß ich nichts sollte drucken lassen. Er versprach mir dagegen, daß er diejenigen Stücke, die er für gut hielt, selbst abschreiben und in einem schönen Bande mir verehren wolle. Dieses Unternehmen gab nun Gelegenheit zu dem größtmöglichsten Zeitverderb. Denn eh er das rechte Papier finden, ehe er mit sich über das Format einig werden konnte, ehe er die Breite des Randes und die innere Form der Schrift bestimmt hatte, ehe die Rabenfedern herbeygeschafft, geschnitten und Tusche einge¬ rieben war, vergingen ganze Wochen, ohne daß auch das Mindeste geschehen wäre. Mit eben solchen Umständen begab er sich denn je¬ desmal ans Schreiben, und brachte wirklich nach und nach ein allerliebstes Manuscript zu¬
Schriftſteller bey mir hegte, durch liebloſe Anmerkungen, die er uͤber die Schriften und Gedichte dieſes und jenes mit Witz und Laune vorzubringen wußte. Meine eigenen Sachen nahm er mit Nachſicht auf und ließ mich ge¬ waͤhren; nur unter der Bedingung, daß ich nichts ſollte drucken laſſen. Er verſprach mir dagegen, daß er diejenigen Stuͤcke, die er fuͤr gut hielt, ſelbſt abſchreiben und in einem ſchoͤnen Bande mir verehren wolle. Dieſes Unternehmen gab nun Gelegenheit zu dem groͤßtmoͤglichſten Zeitverderb. Denn eh er das rechte Papier finden, ehe er mit ſich uͤber das Format einig werden konnte, ehe er die Breite des Randes und die innere Form der Schrift beſtimmt hatte, ehe die Rabenfedern herbeygeſchafft, geſchnitten und Tuſche einge¬ rieben war, vergingen ganze Wochen, ohne daß auch das Mindeſte geſchehen waͤre. Mit eben ſolchen Umſtaͤnden begab er ſich denn je¬ desmal ans Schreiben, und brachte wirklich nach und nach ein allerliebſtes Manuſcript zu¬
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[202/0210]
Schriftſteller bey mir hegte, durch liebloſe
Anmerkungen, die er uͤber die Schriften und
Gedichte dieſes und jenes mit Witz und Laune
vorzubringen wußte. Meine eigenen Sachen
nahm er mit Nachſicht auf und ließ mich ge¬
waͤhren; nur unter der Bedingung, daß ich
nichts ſollte drucken laſſen. Er verſprach mir
dagegen, daß er diejenigen Stuͤcke, die er
fuͤr gut hielt, ſelbſt abſchreiben und in einem
ſchoͤnen Bande mir verehren wolle. Dieſes
Unternehmen gab nun Gelegenheit zu dem
groͤßtmoͤglichſten Zeitverderb. Denn eh er
das rechte Papier finden, ehe er mit ſich uͤber
das Format einig werden konnte, ehe er die
Breite des Randes und die innere Form der
Schrift beſtimmt hatte, ehe die Rabenfedern
herbeygeſchafft, geſchnitten und Tuſche einge¬
rieben war, vergingen ganze Wochen, ohne
daß auch das Mindeſte geſchehen waͤre. Mit
eben ſolchen Umſtaͤnden begab er ſich denn je¬
desmal ans Schreiben, und brachte wirklich
nach und nach ein allerliebſtes Manuſcript zu¬
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/210>, abgerufen am 22.11.2024.
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