Gellert hatte sich nach seinem frommen Gemüth eine Moral aufgesetzt, welche er von Zeit zu Zeit öffentlich ablas, und sich dadurch gegen das Publicum auf eine ehrenvolle Wei¬ se seiner Pflicht entledigte. Gellerts Schrif¬ ten waren so lange Zeit schon das Fundament der deutschen sittlichen Cultur und Jedermann wünschte sehnlich jenes Werk gedruckt zu se¬ hen, und da dieses nur nach des guten Man¬ nes Tode geschehen sollte, so hielt man sich sehr glücklich, es bey seinem Leben von ihm selbst vortragen zu hören. Das philosophi¬ sche Auditorium war in solchen Stunden ge¬ drängt voll, und die schöne Seele, der reine Wille, die Theilnahme des edlen Mannes an unserem Wohl, seine Ermahnungen, Warnun¬ gen und Bitten, in einem etwas hohlen und traurigen Tone vorgebracht, machten wohl ei¬ nen augenblicklichen Eindruck; allein er hielt nicht lange nach, um so weniger als sich doch manche Spötter fanden, welche diese weiche und, wie sie glaubten, entnervende Manier
Gellert hatte ſich nach ſeinem frommen Gemuͤth eine Moral aufgeſetzt, welche er von Zeit zu Zeit oͤffentlich ablas, und ſich dadurch gegen das Publicum auf eine ehrenvolle Wei¬ ſe ſeiner Pflicht entledigte. Gellerts Schrif¬ ten waren ſo lange Zeit ſchon das Fundament der deutſchen ſittlichen Cultur und Jedermann wuͤnſchte ſehnlich jenes Werk gedruckt zu ſe¬ hen, und da dieſes nur nach des guten Man¬ nes Tode geſchehen ſollte, ſo hielt man ſich ſehr gluͤcklich, es bey ſeinem Leben von ihm ſelbſt vortragen zu hoͤren. Das philoſophi¬ ſche Auditorium war in ſolchen Stunden ge¬ draͤngt voll, und die ſchoͤne Seele, der reine Wille, die Theilnahme des edlen Mannes an unſerem Wohl, ſeine Ermahnungen, Warnun¬ gen und Bitten, in einem etwas hohlen und traurigen Tone vorgebracht, machten wohl ei¬ nen augenblicklichen Eindruck; allein er hielt nicht lange nach, um ſo weniger als ſich doch manche Spoͤtter fanden, welche dieſe weiche und, wie ſie glaubten, entnervende Manier
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0202"n="194"/><p>Gellert hatte ſich nach ſeinem frommen<lb/>
Gemuͤth eine Moral aufgeſetzt, welche er von<lb/>
Zeit zu Zeit oͤffentlich ablas, und ſich dadurch<lb/>
gegen das Publicum auf eine ehrenvolle Wei¬<lb/>ſe ſeiner Pflicht entledigte. Gellerts Schrif¬<lb/>
ten waren ſo lange Zeit ſchon das Fundament<lb/>
der deutſchen ſittlichen Cultur und Jedermann<lb/>
wuͤnſchte ſehnlich jenes Werk gedruckt zu ſe¬<lb/>
hen, und da dieſes nur nach des guten Man¬<lb/>
nes Tode geſchehen ſollte, ſo hielt man ſich<lb/>ſehr gluͤcklich, es bey ſeinem Leben von ihm<lb/>ſelbſt vortragen zu hoͤren. Das philoſophi¬<lb/>ſche Auditorium war in ſolchen Stunden ge¬<lb/>
draͤngt voll, und die ſchoͤne Seele, der reine<lb/>
Wille, die Theilnahme des edlen Mannes an<lb/>
unſerem Wohl, ſeine Ermahnungen, Warnun¬<lb/>
gen und Bitten, in einem etwas hohlen und<lb/>
traurigen Tone vorgebracht, machten wohl ei¬<lb/>
nen augenblicklichen Eindruck; allein er hielt<lb/>
nicht lange nach, um ſo weniger als ſich doch<lb/>
manche Spoͤtter fanden, welche dieſe weiche<lb/>
und, wie ſie glaubten, entnervende Manier<lb/></p></div></body></text></TEI>
[194/0202]
Gellert hatte ſich nach ſeinem frommen
Gemuͤth eine Moral aufgeſetzt, welche er von
Zeit zu Zeit oͤffentlich ablas, und ſich dadurch
gegen das Publicum auf eine ehrenvolle Wei¬
ſe ſeiner Pflicht entledigte. Gellerts Schrif¬
ten waren ſo lange Zeit ſchon das Fundament
der deutſchen ſittlichen Cultur und Jedermann
wuͤnſchte ſehnlich jenes Werk gedruckt zu ſe¬
hen, und da dieſes nur nach des guten Man¬
nes Tode geſchehen ſollte, ſo hielt man ſich
ſehr gluͤcklich, es bey ſeinem Leben von ihm
ſelbſt vortragen zu hoͤren. Das philoſophi¬
ſche Auditorium war in ſolchen Stunden ge¬
draͤngt voll, und die ſchoͤne Seele, der reine
Wille, die Theilnahme des edlen Mannes an
unſerem Wohl, ſeine Ermahnungen, Warnun¬
gen und Bitten, in einem etwas hohlen und
traurigen Tone vorgebracht, machten wohl ei¬
nen augenblicklichen Eindruck; allein er hielt
nicht lange nach, um ſo weniger als ſich doch
manche Spoͤtter fanden, welche dieſe weiche
und, wie ſie glaubten, entnervende Manier
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/202>, abgerufen am 11.01.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.