ten uns kein Interesse geben; dagegen hatte sich eine gewisse Reim- und Versewuth, durch Lesung der damaligen deutschen Dichter, unser bemächtigt. Mich hatte sie schon früher er¬ griffen, als ich es lustig fand, von der rhe¬ torischen Behandlung der Aufgaben zu der poetischen überzugehen.
Wir Knaben hatten eine sonntägliche Zu¬ sammenkunft, wo jeder von ihm selbst verfer¬ tigte Verse produciren sollte. Und hier be¬ gegnete mir etwas Wunderbares, was mich sehr lange in Unruh setzte. Meine Gedichte, wie sie auch seyn mochten, mußte ich immer für die bessern halten. Allein ich bemerkte bald, daß meine Mitwerber, welche sehr lah¬ me Dinge vorbrachten, in dem gleichen Falle waren und sich nicht weniger dünkten; ja was mir noch bedenklicher schien, ein guter, obgleich zu solchen Arbeiten völlig unfähiger Knabe, dem ich übrigens gewogen war, der aber seine Reime sich vom Hofmeister machen
ten uns kein Intereſſe geben; dagegen hatte ſich eine gewiſſe Reim- und Verſewuth, durch Leſung der damaligen deutſchen Dichter, unſer bemaͤchtigt. Mich hatte ſie ſchon fruͤher er¬ griffen, als ich es luſtig fand, von der rhe¬ toriſchen Behandlung der Aufgaben zu der poetiſchen uͤberzugehen.
Wir Knaben hatten eine ſonntaͤgliche Zu¬ ſammenkunft, wo jeder von ihm ſelbſt verfer¬ tigte Verſe produciren ſollte. Und hier be¬ gegnete mir etwas Wunderbares, was mich ſehr lange in Unruh ſetzte. Meine Gedichte, wie ſie auch ſeyn mochten, mußte ich immer fuͤr die beſſern halten. Allein ich bemerkte bald, daß meine Mitwerber, welche ſehr lah¬ me Dinge vorbrachten, in dem gleichen Falle waren und ſich nicht weniger duͤnkten; ja was mir noch bedenklicher ſchien, ein guter, obgleich zu ſolchen Arbeiten voͤllig unfaͤhiger Knabe, dem ich uͤbrigens gewogen war, der aber ſeine Reime ſich vom Hofmeiſter machen
<TEI><text><body><p><pbfacs="#f0077"n="61"/>
ten uns kein Intereſſe geben; dagegen hatte<lb/>ſich eine gewiſſe Reim- und Verſewuth, durch<lb/>
Leſung der damaligen deutſchen Dichter, unſer<lb/>
bemaͤchtigt. Mich hatte ſie ſchon fruͤher er¬<lb/>
griffen, als ich es luſtig fand, von der rhe¬<lb/>
toriſchen Behandlung der Aufgaben zu der<lb/>
poetiſchen uͤberzugehen.</p><lb/><p>Wir Knaben hatten eine ſonntaͤgliche Zu¬<lb/>ſammenkunft, wo jeder von ihm ſelbſt verfer¬<lb/>
tigte Verſe produciren ſollte. Und hier be¬<lb/>
gegnete mir etwas Wunderbares, was mich<lb/>ſehr lange in Unruh ſetzte. Meine Gedichte,<lb/>
wie ſie auch ſeyn mochten, mußte ich immer<lb/>
fuͤr die beſſern halten. Allein ich bemerkte<lb/>
bald, daß meine Mitwerber, welche ſehr lah¬<lb/>
me Dinge vorbrachten, in dem gleichen Falle<lb/>
waren und ſich nicht weniger duͤnkten; ja<lb/>
was mir noch bedenklicher ſchien, ein guter,<lb/>
obgleich zu ſolchen Arbeiten voͤllig unfaͤhiger<lb/>
Knabe, dem ich uͤbrigens gewogen war, der<lb/>
aber ſeine Reime ſich vom Hofmeiſter machen<lb/></p></body></text></TEI>
[61/0077]
ten uns kein Intereſſe geben; dagegen hatte
ſich eine gewiſſe Reim- und Verſewuth, durch
Leſung der damaligen deutſchen Dichter, unſer
bemaͤchtigt. Mich hatte ſie ſchon fruͤher er¬
griffen, als ich es luſtig fand, von der rhe¬
toriſchen Behandlung der Aufgaben zu der
poetiſchen uͤberzugehen.
Wir Knaben hatten eine ſonntaͤgliche Zu¬
ſammenkunft, wo jeder von ihm ſelbſt verfer¬
tigte Verſe produciren ſollte. Und hier be¬
gegnete mir etwas Wunderbares, was mich
ſehr lange in Unruh ſetzte. Meine Gedichte,
wie ſie auch ſeyn mochten, mußte ich immer
fuͤr die beſſern halten. Allein ich bemerkte
bald, daß meine Mitwerber, welche ſehr lah¬
me Dinge vorbrachten, in dem gleichen Falle
waren und ſich nicht weniger duͤnkten; ja
was mir noch bedenklicher ſchien, ein guter,
obgleich zu ſolchen Arbeiten voͤllig unfaͤhiger
Knabe, dem ich uͤbrigens gewogen war, der
aber ſeine Reime ſich vom Hofmeiſter machen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/77>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.