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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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meinweiden umher versammelte man zu einem
gewissen Tage des Jahres die Rindviehheerden
aus der Nachbarschaft, und die Hirten sammt
ihren Mädchen feyerten ein ländliches Fest,
mit Tanz und Gesang, mit mancherley Lust
und Ungezogenheit. Auf der andern Seite der
Stadt lag ein ähnlicher nur größerer Gemeinde¬
platz, gleichfalls durch einen Brunnen und
durch noch schönere Linden geziert. Dorthin
trieb man zu Pfingsten die Schafheerden,
und zu gleicher Zeit ließ man die armen ver¬
bleichten Waisenkinder aus ihren Mauern ins
Freye: denn man sollte erst später auf den Ge¬
danken gerathen, daß man solche verlassene
Kreaturen, die sich einst durch die Welt durch
zu helfen genöthigt sind, früh mit der Welt
in Verbindung bringen, anstatt sie auf eine
traurige Weise zu hegen, sie lieber gleich zum
Dienen und Dulden gewöhnen müsse, und
alle Ursach habe, sie von Kindesbeinen an
sowohl physisch als moralisch zu kräftigen.
Die Ammen und Mägde, welche sich selbst

meinweiden umher verſammelte man zu einem
gewiſſen Tage des Jahres die Rindviehheerden
aus der Nachbarſchaft, und die Hirten ſammt
ihren Maͤdchen feyerten ein laͤndliches Feſt,
mit Tanz und Geſang, mit mancherley Luſt
und Ungezogenheit. Auf der andern Seite der
Stadt lag ein aͤhnlicher nur groͤßerer Gemeinde¬
platz, gleichfalls durch einen Brunnen und
durch noch ſchoͤnere Linden geziert. Dorthin
trieb man zu Pfingſten die Schafheerden,
und zu gleicher Zeit ließ man die armen ver¬
bleichten Waiſenkinder aus ihren Mauern ins
Freye: denn man ſollte erſt ſpaͤter auf den Ge¬
danken gerathen, daß man ſolche verlaſſene
Kreaturen, die ſich einſt durch die Welt durch
zu helfen genoͤthigt ſind, fruͤh mit der Welt
in Verbindung bringen, anſtatt ſie auf eine
traurige Weiſe zu hegen, ſie lieber gleich zum
Dienen und Dulden gewoͤhnen muͤſſe, und
alle Urſach habe, ſie von Kindesbeinen an
ſowohl phyſiſch als moraliſch zu kraͤftigen.
Die Ammen und Maͤgde, welche ſich ſelbſt

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[43/0059] meinweiden umher verſammelte man zu einem gewiſſen Tage des Jahres die Rindviehheerden aus der Nachbarſchaft, und die Hirten ſammt ihren Maͤdchen feyerten ein laͤndliches Feſt, mit Tanz und Geſang, mit mancherley Luſt und Ungezogenheit. Auf der andern Seite der Stadt lag ein aͤhnlicher nur groͤßerer Gemeinde¬ platz, gleichfalls durch einen Brunnen und durch noch ſchoͤnere Linden geziert. Dorthin trieb man zu Pfingſten die Schafheerden, und zu gleicher Zeit ließ man die armen ver¬ bleichten Waiſenkinder aus ihren Mauern ins Freye: denn man ſollte erſt ſpaͤter auf den Ge¬ danken gerathen, daß man ſolche verlaſſene Kreaturen, die ſich einſt durch die Welt durch zu helfen genoͤthigt ſind, fruͤh mit der Welt in Verbindung bringen, anſtatt ſie auf eine traurige Weiſe zu hegen, ſie lieber gleich zum Dienen und Dulden gewoͤhnen muͤſſe, und alle Urſach habe, ſie von Kindesbeinen an ſowohl phyſiſch als moraliſch zu kraͤftigen. Die Ammen und Maͤgde, welche ſich ſelbſt

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/59>, abgerufen am 25.11.2024.