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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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Seit einiger Zeit hatte ich bemerkt, daß
Gretchen nicht mehr spann, und sich dagegen
mit Nähen beschäftigte und zwar mit sehr
feiner Arbeit, welches mich um so mehr
wunderte, da die Tage schon abgenommen
hatten und der Winter herankam. Ich dachte
darüber nicht weiter nach, nur beunruhigte
es mich, daß ich sie einige Mal des Morgens
nicht wie sonst zu Hause fand, und ohne
Zudringlichkeit nicht erfahren konnte, wo sie
hingegangen sey. Doch sollte ich eines Tages
sehr wunderlich überrascht werden. Meine
Schwester, die sich zu einem Balle vorberei¬
tete, bat mich ihr bey einer Galanterie-
Händlerinn sogenannte italiänische Blumen
zu holen. Sie wurden in Klöstern gemacht,
waren klein und niedlich. Myrten besonders,
Zwergröslein und dergleichen fielen gar schön
und natürlich aus. Ich that ihr die Liebe
und ging in den Laden, in welchem ich schon
öfter mit ihr gewesen war. Kaum war ich
hineingetreten und hatte die Eigenthümerinn

Seit einiger Zeit hatte ich bemerkt, daß
Gretchen nicht mehr ſpann, und ſich dagegen
mit Naͤhen beſchaͤftigte und zwar mit ſehr
feiner Arbeit, welches mich um ſo mehr
wunderte, da die Tage ſchon abgenommen
hatten und der Winter herankam. Ich dachte
daruͤber nicht weiter nach, nur beunruhigte
es mich, daß ich ſie einige Mal des Morgens
nicht wie ſonſt zu Hauſe fand, und ohne
Zudringlichkeit nicht erfahren konnte, wo ſie
hingegangen ſey. Doch ſollte ich eines Tages
ſehr wunderlich uͤberraſcht werden. Meine
Schweſter, die ſich zu einem Balle vorberei¬
tete, bat mich ihr bey einer Galanterie-
Haͤndlerinn ſogenannte italiaͤniſche Blumen
zu holen. Sie wurden in Kloͤſtern gemacht,
waren klein und niedlich. Myrten beſonders,
Zwergroͤslein und dergleichen fielen gar ſchoͤn
und natuͤrlich aus. Ich that ihr die Liebe
und ging in den Laden, in welchem ich ſchon
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[420/0436] Seit einiger Zeit hatte ich bemerkt, daß Gretchen nicht mehr ſpann, und ſich dagegen mit Naͤhen beſchaͤftigte und zwar mit ſehr feiner Arbeit, welches mich um ſo mehr wunderte, da die Tage ſchon abgenommen hatten und der Winter herankam. Ich dachte daruͤber nicht weiter nach, nur beunruhigte es mich, daß ich ſie einige Mal des Morgens nicht wie ſonſt zu Hauſe fand, und ohne Zudringlichkeit nicht erfahren konnte, wo ſie hingegangen ſey. Doch ſollte ich eines Tages ſehr wunderlich uͤberraſcht werden. Meine Schweſter, die ſich zu einem Balle vorberei¬ tete, bat mich ihr bey einer Galanterie- Haͤndlerinn ſogenannte italiaͤniſche Blumen zu holen. Sie wurden in Kloͤſtern gemacht, waren klein und niedlich. Myrten beſonders, Zwergroͤslein und dergleichen fielen gar ſchoͤn und natuͤrlich aus. Ich that ihr die Liebe und ging in den Laden, in welchem ich ſchon oͤfter mit ihr geweſen war. Kaum war ich hineingetreten und hatte die Eigenthuͤmerinn

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 420. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/436>, abgerufen am 01.09.2024.