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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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waren. Die Tragödie kam seltner vor, und
der gemessene Schritt, das Tactartige der
Alexandriner, das Allgemeine des Ausdrucks
machten sie mir in jedem Sinne faßlicher.
Es dauerte nicht lange, so nahm ich den
Racine, den ich in meines Vaters Biblio¬
thek antraf, zur Hand, und declamirte mir
die Stücke nach theatralischer Art und Weise,
wie sie das Organ meines Ohrs und das
ihm so genau verwandte Sprachorgan gefaßt
hatte, mit großer Lebhaftigkeit, ohne daß ich
noch eine ganze Rede im Zusammenhang
hätte verstehen können. Ja ich lernte ganze
Stellen auswendig und recitirte sie, wie ein
eingelernter Sprachvogel; welches mir um
so leichter ward, als ich früher die für ein
Kind meist unverständlichen biblischen Stellen
auswendig gelernt, und sie in dem Ton der
protestantischen Prediger zu recitiren mich ge¬
wöhnt hatte. Das versificirte französische Lust¬
spiel war damals sehr beliebt; die Stücke von
Destouches, Mariveaux, La Chaus¬

waren. Die Tragoͤdie kam ſeltner vor, und
der gemeſſene Schritt, das Tactartige der
Alexandriner, das Allgemeine des Ausdrucks
machten ſie mir in jedem Sinne faßlicher.
Es dauerte nicht lange, ſo nahm ich den
Racine, den ich in meines Vaters Biblio¬
thek antraf, zur Hand, und declamirte mir
die Stuͤcke nach theatraliſcher Art und Weiſe,
wie ſie das Organ meines Ohrs und das
ihm ſo genau verwandte Sprachorgan gefaßt
hatte, mit großer Lebhaftigkeit, ohne daß ich
noch eine ganze Rede im Zuſammenhang
haͤtte verſtehen koͤnnen. Ja ich lernte ganze
Stellen auswendig und recitirte ſie, wie ein
eingelernter Sprachvogel; welches mir um
ſo leichter ward, als ich fruͤher die fuͤr ein
Kind meiſt unverſtaͤndlichen bibliſchen Stellen
auswendig gelernt, und ſie in dem Ton der
proteſtantiſchen Prediger zu recitiren mich ge¬
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ſpiel war damals ſehr beliebt; die Stuͤcke von
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[204/0220] waren. Die Tragoͤdie kam ſeltner vor, und der gemeſſene Schritt, das Tactartige der Alexandriner, das Allgemeine des Ausdrucks machten ſie mir in jedem Sinne faßlicher. Es dauerte nicht lange, ſo nahm ich den Racine, den ich in meines Vaters Biblio¬ thek antraf, zur Hand, und declamirte mir die Stuͤcke nach theatraliſcher Art und Weiſe, wie ſie das Organ meines Ohrs und das ihm ſo genau verwandte Sprachorgan gefaßt hatte, mit großer Lebhaftigkeit, ohne daß ich noch eine ganze Rede im Zuſammenhang haͤtte verſtehen koͤnnen. Ja ich lernte ganze Stellen auswendig und recitirte ſie, wie ein eingelernter Sprachvogel; welches mir um ſo leichter ward, als ich fruͤher die fuͤr ein Kind meiſt unverſtaͤndlichen bibliſchen Stellen auswendig gelernt, und ſie in dem Ton der proteſtantiſchen Prediger zu recitiren mich ge¬ woͤhnt hatte. Das verſificirte franzoͤſiſche Luſt¬ ſpiel war damals ſehr beliebt; die Stuͤcke von Destouches, Mariveaux, La Chauſ¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/220>, abgerufen am 09.11.2024.